geschrieben von Steven M. Taylor, Ph.D., Gastautor für Wake Up World, übersetzt von Antares
In den letzten Jahren wurde der Prozess der „Wiederherstellenden Gerechtigkeit“ mehr und mehr als eine Möglichkeit benutzt, um mit Verbrechen umzugehen. Als Teil des Prozesses werden die Täter den Opfern ihrer Verbrechen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt, um zu hören, wie sie als Resultat dessen gelitten haben. Das Ziel dieser Begegnung ist es, Heilung zu bringen, für beide, das Opfer und ebenso den Täter. Das Opfer wandelt seine Wut mit einem gewissen Verständnis und mit Vergebung dem Täter gegenüber, und der Täter fühlt sich in das Opfer ein und wird sich der wahren Bedeutung seiner Verbrechen bewusst.
Dieser Prozess verändert Leben. Die Opfer fühlen sich von der Last des Hasses befreit und sind in der Lage, vorwärts zu gehen; die Täter haben eine umfassendere Perspektive und werden weniger wahrscheinlich wieder straffällig. Manchmal treffen Täter nicht ihre spezifischen Opfer, sondern nur die Opfer ähnlicher Straftaten. Das jedoch führt immer noch zu einem neuen Gewahrsein und neuen Verhaltensmustern.
Dies unterstreicht die erstaunliche Kraft der Empathie.
Zu einem grossen Teil sind alle Verbrechen und alle Grausamkeiten das Ergebnis eines Mangels an Empathie. Es ist ein Mangel an Empathie, der jemanden in die Lage versetzt, andere Menschen anzugreifen oder zu unterdrücken. Nur ein Mangel an Empathie für einen anderen Stamm oder ein anderes Land ermöglicht Kriege und Konflikte. Ein Mangel an Empathie anderen ethnischen Gruppen, sozialen Klassen oder Kasten gegenüber ermöglicht Unterdrückung und Ungleichheit.
Was ist Empathie?
Empathie ist die Fähigkeit, mit einer anderen Person „mitzufühlen“, sich mit ihr zu identifizieren und zu spüren, was sie gerade erlebt. Sie wird manchmal als die Fähigkeit betrachtet, die Emotionen anderer Menschen zu „lesen“ oder zu imaginieren, was sie fühlen, indem man sich selbst „in deren Lage versetzt“. Mit anderen Worten: Empathie wird als eine kognitive Fähigkeit erachtet, ähnlich der Fähigkeit, zukünftige Szenarien zu visualisieren oder Probleme auf der Grundlage früherer Erfahrungen zu lösen. Meiner Meinung nach ist Empathie jedoch mehr als das. Sie ist die Fähigkeit, eine psychische und emotionale Verbindung mit einer anderen Person herzustellen, in der Tat in ihren Gedankenraum einzutreten. Wenn wir echte Empathie oder Mitgefühl erfahren, verschmilzt unsere Identität wahrhaftig mit der eines anderen Menschen. Das Getrenntsein zwischen dir und jemand anderem verschwindet. Deine „Grenzen des Selbsts“ schmelzen dahin, so dass du in gewisser Weise – oder bis zu einem gewissen Grade – derjenige wirst.
Wenn du diesen Zustand der Verbundenheit mit einem anderen Menschen erlebst, dann ist es unmöglich, ihn schlecht zu behandeln, ausser vielleicht unabsichtlich. Du prallst vor dessen Leidenserfahrung zurück, so wie du vor deinem eigenen Leid zurückschreckst. Vielmehr verspürst du den heftigen Wunsch, sein Leiden zu lindern und seine Entwicklung zu unterstützen.
Empathie hat auch für uns starke psychologische Vorteile. Untersuchungen zeigen, jene Menschen, die empathischer sind, sind zufriedener mit ihrem Leben und haben bessere Beziehungen. Einige Wissenschaftler glaubten einstmals, der Mensch sei von Natur aus egoistisch und individualistisch, doch Forschungen zeigen mehr und mehr, Empathie – und nicht Egoismus – ist in uns „angelegt“.
Tiere zeigen oftmals Empathie füreinander, sogar für Mitglieder anderer Spezies, und dies manifestiert sich in zufälligen Taten von Freundlichkeit. Wie Lynn McTaggart – Autorin von The Bond – es ausdrückt: „Tiere schliessen sich häufig mit Mitgliedern nicht verwandter Spezies zusammen … Es gibt sogar Fälle, bei denen ein Tier einer Spezies Tiere einer anderen adoptiert“. Und innerhalb ihrer eigenen Spezies teilen Tiere oftmals ihre Nahrung, um sicherzustellen, dass die schwächeren Mitglieder ihrer Gruppe ernährt sind, selbst wenn sie dafür auf ihre eigene Nahrung verzichten müssen.
Sind Frauen einfühlsamer?
Studien ergaben, Frauen sind im Allgemeinen empathischer als Männer. Zum Beispiel wurde ermittelt, Frauen können die Emotionen von Menschen deutlich besser „lesen“, indem sie jenen anderen einfach in die Augen schauen. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass Frauenfreundschaften eher auf gegenseitiger Hilfe und dem Teilen von Problemen beruhen, während Männer üblicherweise Freundschaften auf der Basis gemeinsamer Interessen, wie Sport und Hobbys, entwickeln.
Ebenfalls konnte ermittelt werden, dass Männer und Frauen unterschiedliche Sprechstile nutzen. Die Gespräche bei Frauen dauern in der Regel länger, da sie mehr „Rückkanalunterstützung“ nutzen, wie Nicken, Lächeln und derartige Gesten. Wenn sie in Widerspruch stehen, neigen sie dazu, ihre Meinung indirekt zu äussern, anstatt eine Aussage zu machen, was hilft, Konfrontationen zu vermeiden. Auf der anderen Seite neigen Männer dazu, unverblümter und meinungsfreudiger zu sein. Sie verwenden mehr Imperative und neigen dazu, eher über jemanden „hinwegzureden“. Wie der Psychologe Simon Baron-Cohen es ausdrückt, „verbringen die Männer mehr Zeit damit, ihre Sprache zu benutzen, um ihr Wissen, ihr Können und ihren Status zu demonstrieren“.
Das ergibt Sinn: letztendlich ist die überwiegende Mehrheit der „menschlichen Unmenschlichkeit“ in der Geschichte wirklich von den Männern ausgegangen. Fast alle Kriege wurden von Männern inszeniert und geführt, und die meiste soziale Unterdrückung wurde von Männern mit hohem Status ausgeübt, die ihre Macht und ihren Reichtum schützen und vergrössern wollten.
Dies ergibt ebenso im Hinblick auf die Rolle der Frau als Mutter Sinn. Sicherlich leistet ihre fürsorgliche Rolle ihrer Empathie Vorschub, da sie eine starke emotionale Verbindung zu den Kindern brauchen. Zumindest könnte man annehmen, diese emotionale Verbindung würde es ihnen erschweren, die Fähigkeit zur Empathie zu verlieren.
Empathie mit der Natur
Empathie kann sich nicht nur auf andere Menschen beziehen, sondern auch auf andere Lebewesen und auf die Natur selbst. Viele der Stammesvölker der Welt respektieren die Natur, weil sie spüren, sie ist lebendig, und sie fühlen sich mit ihr verbunden. Sie spüren, alle natürlichen Dinge – nicht nur die Tiere, sondern ebenso die Pflanzen, die Steine und die ganze Erde selbst – sind nicht nur Objekte, sondern Wesen, die Teil desselben Netzes der Schöpfung sind wie sie selbst. Sie fühlen mit den Pflanzen, den Tiere und der Erde und zögern daher, ihr zu schaden oder sie zu zerstören.
Wie der grosse indianische Philosoph Luther Standing Bear schrieb, war für die Lakota-Indianer „die Verwandtschaft mit allen Geschöpfen der Erde, des Himmels und des Wassers ein reales und aktives Prinzip. In der Tier- und Vogelwelt existierte ein brüderliches Gefühl, das die Lakota innerhalb von ihnen sicher hielt.“ Als Ergebnis dessen, schrieb Luther Standing Bear und nahm somit die moderne Tierrechtsbewegung vorweg, ,hatten die Tiere Rechte – das Recht auf den Schutz des Menschen, das Recht zu leben, das Recht sich zu vermehren, das Recht auf Freiheit und das Recht auf die Verpflichtungen des Menschen – und in Anerkennung dieser Rechte versklavten die Lakota niemals ein Tier und verschonten alles Leben, das nicht für Nahrung und Kleidung benötigt wurde.‘
Diese Haltung brachte ein Gefühl von Verantwortung mit sich. Viele indigene Völker sahen – und sehen noch immer – sich selbst als die Hüter der Natur, einschliesslich der Verantwortung, jene Harmonie zu wahren. Wie Häuptling Edward Moody von der Nuxalk Nation sagt: „Wir müssen die Wälder für unsere Kinder und Enkelkinder schützen, und für jene, die noch geboren werden. Wir müssen die Wälder für diejenigen beschützen, die nicht für sich selbst sprechen können, wie die Vögel, die Tiere, die Fische und die Bäume.“
Zu einem grossen Anteil ist die Umweltzerstörung eine Manifestation des Mangels an Empathie für die Natur und die Erde. Ein stark ausgeprägtes Ego führt dazu, dass ein Gefühl des „Andersseins“ der Natur gegenüber vorherrscht, dass jene ihre Lebendigkeit nicht spüren können und daher keine Skrupel haben, sie auszubeuten und zu missbrauchen.
Heilung durch Empathie
So wie das Fehlen von Empathie Grausamkeit und Unterdrückung erst möglich macht, heilt das Vorhandensein von Empathie in der Tat Konflikte. Je weiter sich die Empathie erstreckt – von Opfern zu Tätern, von einer ethnischen Gruppe zur anderen, von Nation zu Nation und Religion zu Religion – desto weniger brutal und umso harmonischer wird die Welt werden.
Vielleicht ist dabei am wichtigsten, dass, wie die ,Wiederherstellende Gerechtigkeit‘ zeigt, Empathie bis zu einem gewissen Grad gefördert werden kann. Wenn Menschen in einem neutralen Kontext zusammengebracht werden, mit einer offenen, vertrauensvollen Haltung, stellt sich Empathie auf sehr natürliche Weise ein. Unterschiede von ethnischer Zugehörigkeit, Religion und anderen oberflächlichnr „Identitätsabzeichen“ beginnen zu verblassen, ebenso wie das Gefühl von Trauer und Wut, das aus den vergangenen Ereignissen herrührt. Dasselbe könnte man ebenfalls von der Natur sagen – wenn Menschen Zeit in natürlicher Umgebung verbringen und sich in ihrer Stille und Weite entspannen mögen, stellt sich die natürliche Verbindung wieder her.
Diese Bindung ist sicherlich unsere wahre Natur. Empathie zeigt uns, das Konzept des Getrenntseins ist in diesem Sinne eine Illusion. Empathie ist einfach die Erfahrung unserer wahren Verbundenheit, der Austausch von Gefühlen durch den Kanal des gemeinschaftlichen Bewusstseins, der nicht nur alle Menschen, sondern alle lebenden und nicht lebenden Dinge verbindet.
Empathie-Meditation
Denke an jemanden, den du liebst, und nimm das warme Gefühl wahr, das in dir aufsteigt. Halte dieses warme Gefühl fest und lass es sich im gesamten Körper ausbreiten, ebenso in den Körperteilen, in denen du dich unwohl fühlst. Lass es in deinen Geist einfliessen, damit du Empathie und Mitgefühl für deine eigenen Gedanken empfindest, einschliesslich der negativen. Denke an alle Menschen um dich herum, in den Räumen oder Gebäuden in deiner Nähe, und stelle dich vor, wie dieses warme Glühen des Mitgefühls deinen Körper verlässt und sich auf sie überträgt. Denke an all die Menschen in deinem Ort, in den Strassen und Gebäuden, und dehne das warme Gefühl nunmehr auf sie aus. Denke an all die Menschen in deinem Land, in den Städten und auf dem Land, und dehne das Gefühl weiter auf sie aus. Dann dehne es noch mehr aus, auf alle Menschen auf diesem Planeten, die Millionen von Menschen in all den verschiedenen Ländern. Spüre, wie das Leuchten des Mitgefühls sich von deinem Wesen auf die ganze Welt und in den Raum über dir ausbreitet und in den Himmel und das ganze Universum aufsteigt.
Einfühlungsvermögen kultivieren
- Benutze deine Vorstellungskraft, um dir vorzustellen, wie die Welt durch die Augen anderer Leute aussieht. Denke darüber nach, wie sich andere Menschen in ihrer Notlage fühlen und wie ihre Erfahrungen ihre Wahrnehmung prägen.
- Wenn du mit anderen Menschen sprichst, schenke ihnen deine volle Aufmerksamkeit. Denke nicht an andere Dinge, schaue nicht in die Ferne oder schaue nicht auf dein i-phone. Wenn du anderen Menschen deine volle Aufmerksamkeit schenkst, zeigt das, dass du sie respektierst, und stellt eine starke Verbindung zwischen euch her, die es ermöglicht, dass die Empathie fliessen kann.
- Bevor du eine andere Person für ihr schlechtes Verhalten verurteilst, denke über die Gründe für deren Verhalten nach. Liegt es an schlechten Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, oder an Persönlichkeitsmerkmalen, über die sie keine Kontrolle haben?
- Sei altruistisch und freundlich zu anderen. Stelle sicher, dass dein Leben ein Element des Dienens enthält, bei dem du die Bedürfnisse anderer vor deine eigenen stellst, z. B. die Pflege von Kranken oder älteren Menschen, Wohltätigkeit oder ehrenamtliche Arbeit. Altruismus und Dienen helfen uns, das Getrenntsein zu überwinden und uns mit anderen zu verbinden, wodurch als eine Folge die Empathie entsteht.