geschrieben von Ursula Theresa M. Lutz, zugesandt von Axel Tigges

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Sicher können wir uns in der Geschichte alle wiederfinden und uns auf die wunderbaren Dinge mit den Naturwesen einstellen. Vielen Dank!

Johannes GlĂŒck

Es war einmal ein kleiner Junge mit dem Namen Johannes, der eine besondere Gnade besass. Er konnte nĂ€mlich Dinge sehen, die fĂŒr die meisten Menschen unsichtbar sind.
ZĂŒndete die Mutter ein Streichholz an, so bemerkte er gleich ein winziges, köpfendes MĂ€nnchen in der Flamme. Goss sie ihre Blumen und Pflanzen mit besonderer Sorgfalt, so war sich der kleine Johannes ganz sicher, an der BlĂŒte ein seltsames schönes Wesen mit zarten FlĂŒgeln zu erkennen.
Aber immer, wenn er seiner Mutter davon erzĂ€hlte, strich sie ihm liebevoll ĂŒber das Haar und schĂŒttelte den Kopf. „Es gibt keine Geister“, sagte sie ihm. „Das ist nur deine Phantasie.“

Eines Tages jedoch, als Johannes schon in seinem Bettchen lag, hörte er ein seltsames GerĂ€usch an der TĂŒr.
Er blickte sich um und sah ein höchst merkwĂŒrdiges Wesen, das den Finger vor den Mund legte und „Pst“ machte.
Es war nur halb so groß wie er und von eigenartiger GebĂ€rde und Kleidung. Den bĂ€rtigen Kopf bedeckte eine MĂŒtze aus BlĂ€ttern. Die kleine Gestalt umhĂŒllte ein grob gewebtes Hemd, das mit einem GĂŒrtel aus Baumrinde zusammengehalten wurde und in der knorrigen Hand hielt es ein winziges kleines Laternchen.
Weil es so freundlich lĂ€chelte, blieb Johannes ruhig in seinem Bettchen sitzen und hatte gar keine Angst. „Pst“ machte das MĂ€nnchen wieder und kam nĂ€her. „Bist du der Sandmann?“, wollte Johannes wissen. Aber das Wesen schĂŒttelte den Kopf und setzte sich auf sein Bettchen.
„Nein“, sagte es. „Ich bin ein Wichtel und wohne schon sehr lange hier. Ich weiß, dass du uns sehen kannst. Ich habe dich neulich beobachtet, wie du mit den Blumenelfen gesprochen hast. Du bist ein Kind besonderer Gnade, denn wisse, es gibt nur sehr wenige Menschen, die uns sehen können.“ Da nickte Johannes. „Weisst du“, flĂŒsterte er aufgeregt „Meine Mutter glaubt mir nie, wenn ich ihr von den Elfen erzĂ€hle“.
„Deine Mutter kann uns nicht sehen“, antwortete der Wichtel „Aber sie pflegt uns mit ihrer Liebe zu allen Pflanzen und Tieren. Jeder Mensch, der dies tut, sorgt auch fĂŒr unser Leben; denn wir können nur dort bleiben, wo die Liebe wohnt.“
Dem kleinen Johannes aber waren in der Zwischenzeit die Augen zugefallen und der Wichtelmann rief die Elfen des Mondes zu sich, um ihn trÀumen zu lassen.1

Abend fĂŒr Abend kam er von nun an und erzĂ€hlte dem Jungen die schönsten Geschichten. Johannes hatte den Wichtel bald sehr lieb gewonnen und wartete jedes Mal voller Sehnsucht auf seinen neuen Freund.
So verging Jahr um Jahr und Johannes wurde immer grösser. Langsam entwuchs er den Kinderschuhen, weitere Jahre verstrichen und aus dem kleinen Jungen wurde mit der Zeit ein junger Mann. WÀhrend all dieser Zeit hatte ihn der Wichtelmann begleitet, aber als Johannes sein 14. Lebensjahr vollendet hatte, war dieser plötzlich verschwunden.
Er suchte ihn ĂŒberall, ging durch die Wohnung, rief ihn bei seinem Namen. Die Mutter sah diesem Treiben kopfschĂŒttelnd zu und tadelte ihn. „Nun bist du bald erwachsen“, sagte sie. „Du musst doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass es weder Elfen noch Wichtel gibt. Es wird Zeit, dass du dich ernsteren Dingen widmest.“
Johannes war ĂŒber diese Worte verletzt und traurig, aber irgendetwas gebot ihm zu schweigen. Er beschloss, von nun an mit keinem Menschen mehr darĂŒber zu reden.

Ab diesem Zeitpunkt jedoch ging eine merkwĂŒrdige Wandlung in ihm vor. Sein offenes Herz verschloss sich immer mehr und er wurde achtlos und missmutig. Seine geliebten Pflanzen pflegte er nicht mehr und ging stĂ€ndig neue, immer fremdere Wege.
Langsam begann er, den Wichtel ebenso zu vergessen wie die Elfen und Feuergeister, die ihn durch seine ganze Kindheit begleitet hatten.
Nur manchmal, wenn er ganz alleine war und die halbverdorrten Blumenstöcke an seinem Fenster sah, dachte er daran und weinte, weil er von all dem nichts mehr begreifen konnte.
Schliesslich sagte er sich: „Ich habe wohl meine Kindheit verloren. Nun also bin ich erwachsen.“ DarĂŒber war er zwar traurig, aber es schien nichts zu geben, mit dem er diese Tatsache hĂ€tte verĂ€ndern können. So wandte sich Johannes anderen, neuen Werten zu. Er schloss die Schule ab, ging durch ein Studium und widmete sich seiner Arbeit in einer Werbeagentur. Die Arbeit brachte ihm einen guten Verdienst, er erwarb ein Haus und andere Dinge und hĂ€tte eigentlich rundherum zufrieden sein können.

Aber er war nie wirklich glĂŒcklich. StĂ€ndig suchte er nach etwas, dass er „Liebe“ nannte.
Er konnte es jedoch nirgends finden, weder bei meist oberflĂ€chlichen Freunden, noch bei irgendwelchen Frauen. Eines Nachts sass er abermals auf seinem Bett und starrte traurig auf seine Blumen, die kaum noch Leben in sich zu tragen schienen. Er wollte bereits aufstehen und sie voller Zorn hinauswerfen, da hörte er die TĂŒr leise aufgehen.
Erschrocken drehte er sich um und da stand plötzlich das WichtelmĂ€nnchen vor ihm. „Johannes“, sagte es. „Erkennst du mich wieder? Ich habe dich deine ganze Kindheit hindurch begleitet, aber ich muss sehen, dass du nichts gelernt hast!“
HĂ€tte Johannes diese Worte von jemand anderem gehört, so wĂ€re er sicherlich zornig geworden. Aber nun setzte er sich auf sein Bett und senkte beschĂ€mt den Kopf. „Ich weiß“, antwortete er. “Ich habe die Liebe verloren. Ich kenne so viele Menschen, aber niemanden der mich wirklich liebt.“
„Nun denn“, versetzte der Wichtel. „Das kommt, da du den verkehrten Weg eingeschlagen hast. Du fragst nur nach der Zuneigung anderer, aber denkst du auch daran, dass es deine erste Aufgabe als Mensch ist, selbst zu lieben? Überlege dir wohl, wie du dein Leben gestaltest, dann magst du auch glĂŒcklicher werden.“
Damit wandte sich der Wichtel wieder zur TĂŒr. In Johannes‘ Herzen aber regte sich plötzlich etwas, das ihm nicht fremd aber auch nicht mehr vertraut erschien. „Bitte“, rief er. „Bitte Wichtel, bleib bei mir. Lauf nicht fort – Du bist doch mein einziger Freund.“
Aber das MĂ€nnlein schĂŒttelte den bĂ€rtigen Kopf. „Sieh nach deinen Blumen, Johannes“, sagte es. „Öffne deine Augen und beginne zu leben, was du um dich spĂŒrst. Dann erst komme ich wieder.“ Damit ging es hinaus.

Nun aber begann fĂŒr Johannes eine schwere und doch segensreiche Zeit. MĂŒhsam erweckte er sein Interesse wieder, das ihm Menschen, Tiere und Pflanzen wieder mit anderen Augen schauen liess. Diese Augen ermöglichten ihm, viele Dinge zu sehen, fĂŒr die er so lange Zeit blind gewesen war. Er entdeckte in jedem Wesen den guten Kern und ging mit grosser Sorgfalt an die Arbeit. Er setzte seine Pflanzen um, goss sie und redete mit ihnen wie in frĂŒheren Zeiten. Seine Ohren vermochten nach geraumer Zeit wieder das fröhliche Zwitschern der Vögel wahrzunehmen und von den Menschen zu hören, was sie bewegte. Aber er sah nun auch all den Unbill, den die Menschenkinder zu verantworten hatten. Sein eigenes Leben gestaltete er langsam in liebevoller Harmonie zu allem Lebendigen, da er stĂ€ndig an sich arbeitete und sich immer neue Wege eröffneten. Zwei Jahre waren vergangen und Johannes sah voller Freude, dass seine Blumen wieder blĂŒhten und gediehen. „Wie schön ihr doch seid“, sagte er zu ihnen „Ich bin sehr zufrieden. Nur meinen Wichtel vermisse ich.“12d2ba49c4b8bfed012943dc0e172bb4

In diesem Moment hörte er hinter sich eine wohlbekannte Stimme „Hier bin ich.“ Er drehte sich um und sah voller Überraschung das kleine MĂ€nnchen in der TĂŒre stehen. „Welche Freude“, rief er. „Ich habe schon so auf dich gewartet.“
Der Wichtel stellte sein kleines Licht auf den Tisch und nahm in einem Lehnstuhl Platz.
„Nun, Johannes“, sagte er. “Wir sehen, du hast gut an dir gearbeitet. Wir sind sehr zufrieden mit dir, da es uns glĂŒcklich macht, dich am richtigen Weg zu sehen. Wisse, dass du deine Kindheit nie wirklich verloren hattest. Du hattest sie nur verdrĂ€ngt, da in deinem Leben kein Platz dafĂŒr ĂŒbrig erschien. Als Kind von besonderer Gnade waren wir dir selbstverstĂ€ndlich – nicht aber, als der Intellekt deinen Weg zu bestimmen begann. Wisse auch, dass es sehr vielen Menschenkindern so ergeht. Du aber hast durch unsere FĂŒhrung die wahren Werte erkannt und bist rechtzeitig umgekehrt. Du hattest alles, was dein materielles Herz begehrte, wurdest aber nicht glĂŒcklich. Nun ist es an uns, Hilfe von dir zu erbitten.“
Johannes hatte sich, wie viele Jahre zuvor, neben seinen kleinen Freund gesetzt.
„Sag mir doch, wie ich euch denn helfen könnte?“, bat er. „Ich verspreche dir, alles zu tun, was mir in meiner menschlichen Macht möglich ist.“
Da wiegte der Wichtel seinen bĂ€rtigen Kopf nachdenklich hin und her. „Nun denn“, entgegnete er. „Das ist ein hohes Versprechen.“ Meinst Du auch, Menschenkind, dass Du es wirklich halten möchtest?“ „Was immer es ist“, erwiderte Johannes fest, „ich will tun, was ich zu tun imstande bin.“

Darauf erhob sich der Wichtel, nahm die Laterne vom Tisch und wandte sich zur TĂŒr. „Wenn Du dies willst“, sagte er, „so folge mir. Wir wollen einen weiten Weg gehen.“ Er winkte Johannes und fĂŒhrt ihn hinaus in die Nacht. Sie durchschritten die Stadt und liessen Dörfer und Felder hinter sich.
Nach langer Zeit blieb der Wichtel stehen. „Schau dich um, Johannes. Siehst du etwas?“ „Ja“, antwortete dieser. „Ich glaube, ich weiss, was dich bedrĂŒckt. Der Boden stirbt uns unter den FĂŒssen und seit langem schon blĂŒht keine Kornblume mehr.“
Da nickte der Wichtel „Es ist nicht nur die Erde, die stirbt“, sagte er traurig. „Mit ihr, den BĂ€umen der Luft und dem Wasser sterben auch wir Wesen an der Achtlosigkeit der Menschen. Es ist nicht nur der Schmutz, unter dem wir leiden. Es ist vielmehr die Lieblosigkeit und Sorglosigkeit an der wir zugrunde gehen. Wenn aber unsere Wesen sterben, so wird es bald nichts mehr an Schönem geben: keine guten Gedanken, kein Licht, keine Kraft – nichts mehr. Die Seelen der Menschen wĂŒrden vertrocknen.“ Er seufzte tief . „Ach, wĂŒrdet ihr wissen, wie sehr ihr euch mit eurem Glauben an Macht und an das, was ihr Fortschritt nennt, selbst schadet.“ Abermals seufzte der Wichtel tief und gab Johannes einen erneuten Wink, ihm weiter zu folgen. Über Berge, Heiden und TĂ€ler ging es und das Laternchen leuchtete ihnen unaufhörlich den Weg. Schliesslich durchquerten sie einen grossen Wald, bis sie zu einer Lichtung kamen. Der Mond war freundlich und hell und tauchte alles in einen silbernen Schein.

Nun blieb der Wichtel stehen und als Johannes sich umsah, bemerkte er eine Vielzahl von kleinen Wesen an BÀumen und Wurzeln, die ihn Àngstlich aus ihren Verstecken beobachteten.
„Pst“, flĂŒsterten sie, „Gebt acht! Ein Mensch.“ Da hob der Wichtel, der Johannes gefĂŒhrt hatte, seine Laterne. „Euch zum Gruss, ihr Wesen des Waldes“, sprach er laut. „Ich habe euch ein Menschenkind mitgebracht, das seit es die Erde kennt, die Gnade erfuhr, uns zu sehen. Er ist bereit, unserer Sache, die auch die der Menschen ist, zu dienen.“
Als er dies gesagt hatte, öffnete sich der Wald und das kleine Volk kam langsam aus den vielen Verstecken. Johannes meinte, noch nie eine solche Vielfalt gesehen zu haben. Zarte Mooselfen mit schimmernd grĂŒnen FlĂŒgeln setzten sich unweit vor ihm. Gnome und Waldgeister liessen sich blicken, Wichtel kamen aus Baumhöhlen und Ritzen, Feen aus den Wipfeln der Tannen und Fichten, Irrlichter tanzten unruhig einher. Sogar eine kleine Wasserhexe war gekommen. Sie trippelte bis vor Johannes, der sich voller Staunen auf einen Baumstumpf gesetzt hatte und musterte ihn freundlich.5

„Soso“, sagte sie dann, an den Wichtel gewandt. „Das ist also das Menschenkind, von dem du erzĂ€hlt hast. Wie war nur sein Name?“ „Ich heisse Johannes“, sagte dieser. „Und ich möchte euch gerne helfen.“ Die kleine Hexe wackelte mit dem Kopf .„So so“, sagte sie abermals. Als Johannes sie genauer betrachtete, so musste er ĂŒber ihr seltsames Aussehen staunen. Die Wasserhexe mochte vielleicht die Grösse eines zweijĂ€hrigen Kindes erreichen. Über den dĂŒrren Leib hing ein Gewand aus grober Webe und das blass grĂŒne Haar war nur dĂŒrftig von einem HĂ€ubchen aus Bast bedeckt und hing ihr struppig ins Gesicht. Selbst ihre Haut schimmerte in Ă€hnlicher Farbe wie das Haar in sanftem GrĂŒn. Nur die Augen waren kohlrabenschwarz und lebendig. An den knorrigen HĂ€nden vermochte man ein hohes Alter zu erkennen. „Welch kluge Augen sie hat“, dachte er. „Sie muss wohl schon sehr lange auf Erden gewesen sein.“ Die kleine Wasserhexe aber konnte Gedanken lesen und kicherte freundlich. “Das glaube ich dir gern, Menschenkind, dass dir mein Aussehen sonderbar anmutet“, sagte sie. „Und was meine Klugheit betrifft, so will ich dir erzĂ€hlen, dass ich in den 7777 Elfenjahren wohl genug erfahren habe.“ Weil Johannes vom Wichtel wusste, dass ein Elfenjahr mit einem ganzen Menschenleben gleichzusetzten war, staunte er und sagte sich, dass sie wohl seit Menschengedenken auf ihren Platz gewirkt haben musste.
„Dies ist wohl wahr“, erwiderte die kleine Hexe, als habe er seine Gedanken laut ausgesprochen. In der Zwischenzeit hatten alle Wesen, die versammelt waren, ihre anfĂ€ngliche Scheu verloren und sich eng um Johannes geschart.

„Siehst du wohl“, sagte der Wichtel. „Wir alle wohnen hier im Wald und tun hier unsere Aufgabe. Die Feen singen das Lied, das die BĂ€ume gedeihen lĂ€sst, die Gnome und Wichtel schaffen sich am Boden und Stein, die Mooselfen segnen die Erde, die Undinen wirken an den Quellen, die Sylphen durchstreifen die LĂŒfte und die Schrate sind an Wegen und Wurzeln. So hat jede Schar das ihre zu tun. Unter ihnen sind nur noch wenige am Leben. Unsere Wasserhexe ist die Einzige ihrer Art, die bis heute geblieben ist.“
„Ich sehe schon“, antwortete Johannes nach einer Weile. „Wir Menschen haben grosse Probleme erschaffen.“
„Es gibt keine Wasserhexer mehr“, klagte nun auch die Wasserhexe. „Und keine Sumpfhexen“, riefen die Irrlichter. „Ja“, antworteten die Feen. „Auch die Wesen des Windes schweigen immer mehr.“ Da brachte jedes Wesen ein Klage vor und Johannes senkte traurig den Kopf. „Meine Freunde“, sagte er schliesslich, „ich habe erst vier Jahrzehnte der Menschen durchlebt und kann daher keine derartig grosse Klugheit besitzen wir ihr. Aber ich trage die Liebe in mir, und ich weiss, dass nur gedeihen kann, was man mit guten Gedanken bestĂ€rkt. Es ist die Achtlosigkeit unseres Geschlechts, die dieses Leid ĂŒber euch bringt.
Wenn aber ihr zugrunde geht, weil wir das Wunder der Schöpfung missachten, so wird euch der Wald, die Wiesen und das Korn folgen. Euer Ende mag gleichbedeutend sein mit dem unseren.“

„Welch ein Wort aus dem Mund eines Menschenkindes“, sagte die kleine Wasserhexe anerkennend. „Ich sehe aber, dass es dir vom Herzen kommt. Ich bin voller Hoffnung, dass du es bist, der uns helfen wird.“
„Ich gebe euch mein Wort, dass ich tun werde, was mir in unseren Grenzen möglich ist“, erwiderte Johannes. „Aber sagt mir doch, was es fĂŒr mich zu tun gibt.“
„Du brauchst nur die Samen deiner Liebe in die Herzen der Menschen streuen“, antwortete der Wichtel darauf. „Schweige aber ĂŒber uns Wesen, um nicht neues Leid ĂŒber dich und uns zu bringen.“ Just, als der Wichtel so gesprochen hatte, verspĂŒrte Johannes grosse MĂŒdigkeit und er fiel in tiefen Schlaf.
Als er daraus erwachte und verwundert seine Augen rieb, lag er zuhause in seinem Bett. Zuerst dachte er, er habe einen schweren Traum gehabt. Aber da stand der Wichtel neben ihm und lÀchelte freundlich.
„Nun denn, Johannes“, sprach er. „Geh an die Aufgabe, die du zu lösen versprochen hast. Du bist ein Mensch von besonderer Gnade und wirst daher mehr vermögen, als wir es sonst von Kindern deines Geschlechts erwarten können. Habe jedoch niemals Furcht – denke wohl daran, dass wir dir mit all unserer Kraft zur Seite stehen.“ Damit verschwand der Wichtel.

Eine lange Weile sass Johannes auf seinem Bett und dachte angestrengt nach, wie er seine Aufgabe wohl anfangen könnte. Da hörte er tief in sich eine kleine Stimme, die ihm deutlich sagte: „Wenn du die Liebe in den Herzen anderer erwecken möchtest, so musst du selbst frei von jedem Gram deiner eigenen Seele sein.“
„Ja“, antwortete Johannes. „So will ich mich reinigen und still werden, damit ich tun kann, was ich zu erfĂŒllen versprochen habe.“ Er stand auf und wandte sich seinen Blumen zu, die er an das Licht des Fensters gestellt hatte. Langsam strich er mit seinen HĂ€nden ĂŒber die ĂŒppigen BlĂ€tter. „Es wird kein leichter Weg sein“, sagte er sich, „aber ich will halten, was ich dem Wichtelvolk versprochen habe.“
Da öffnete sich eine der Knospen und ein winziges Elfenwesen rutschte heraus. Es breitete seine zarten FlĂŒgel gleich einem Schmetterling aus und setzte sich gar nicht scheu auf Johannes‘ Hand. „Wohl dir, Menschenkind“, sprach es, „dass du Gedanken der Liebe in dir trĂ€gst. Wisse, dass der LichterfĂŒllte niemals Gram oder Zorn in seinem Herzen findet. Was du machen willst, möge dir gelingen. Verzage aber nie an der Taubheit und Blindheit deiner Menschengeschwister. Du brauchst nur einer inneren Stimme zu folgen, auf die zu hören du ja verstehst.“2

Nicht lange darauf machte sich Johannes auf den Weg, um dem Wunsch der Wesen zu folgen und seine Aufgabe zu erfĂŒllen. Seine Wanderung fĂŒhrte ihn ĂŒber Wiesen und Brachland, durch enge Gassen und ĂŒber breite Landstraßen.
Und wohin er auch kam, liess er sich nieder, um den neugierigen Menschen, die gerne gewusst hĂ€tten, woher dieser Fremde denn stamme, Geschichten zu erzĂ€hlen von Wichteln und Elfen. Diese Geschichten waren so wundersam, dass immer mehr Menschen herbeiströmten, um ihnen zu lauschen. Bald schon war es geschehen, dass ihm sein Ruf vorauseilte und sich in Stadt und Dorf Menschen zusammentaten um zu hören, was ihnen Johannes zu berichten hatte. So zog er weiter, erzĂ€hlte seltsame Dinge und streute den Menschen innerlich die Liebe in Herz und Augen. Einst gelangte er wieder in eine grosse Stadt und wie ĂŒberall scharten sich Frauen und MĂ€nner um ihn, um andĂ€chtig zu horchen.

Schliesslich sagte jemand: „Deine Geschichten sind so schön, dass sie wahr sein könnten.“
„Sie sind wahr“, antwortete Johannes geheimnisvoll. „Ihr mĂŒsst nur eure Augen und Ohren dem öffnen, was euch der Verstand wahrzunehmen verbietet. Denkt einmal an eure Kindheit zurĂŒck: Habt nicht auch ihr das Leben wahrgenommen, welches an den Pflanzen eurer Zimmer wirkte? Habt nicht auch ihr mehr als nur die Flamme einer brennenden Kerze gesehen? Habt ihr euren MĂŒttern und VĂ€tern nicht von kleinen Wesen darin erzĂ€hlt?“
Da schwiegen die Umstehenden und gingen in sich, um zu fragen.
Schliesslich, nach einiger Zeit des Schweigens rief einer: „Ja, du hast Recht. Da war eine winzige Elfe an meinen Christusdorn. Jetzt erinnere ich mich.“ Und nachdem dieser Eine gewagt hatte, den Mund aufzutun, folgten auch Andere seinem Beispiel. „Ja“, sagte auch eine junge Frau „Immer bevor ich einschlief, sass ein Engel an meinem Bettrand. Ich habe ihn ganz sicher gesehen!“ Und viele mehr berichteten, worauf sie lĂ€ngst vergessen hatten, als sie den Kinderschuhen entwachsen waren. Selbst die Zweifler unter ihnen, erinnerten sich an manch merkwĂŒrdige Dinge, wenngleich sie auch darĂŒber schwiegen.
„Ach“, seufzten die Menschen, „welch schöne Dinge wir doch als Kinder sehen durften.“ Da musste Johannes ein wenig lĂ€cheln. „Ihr könnt sie wiederfinden“, antwortete er. „Ihr mĂŒsst nur wieder beginnen, eure Erde zu achten und mit dem Herzen zu lieben und zu schauen, was Euch als Kinder gegeben war.“

Langsam, ganz langsam befolgten immer mehr Menschen diesen Rat, und wo sie es taten, rĂŒckten sie eng zusammen und staunten, welche Welt sich nun fĂŒr sie zu öffnen begann. Da ihnen Johannes immer wieder die Ehrfurcht vor der Natur gelehrt hatte, verschonten sie WĂ€lder und Wiesen von jeder Gier, hielten GewĂ€sser und Erdreich rein und riefen so die Wesen ins Leben zurĂŒck.
Als Johannes eines Tages wieder alleine durch einen Wald ging, hörte er eine wohlbekannte Stimme seinen Namen rufen.
Er drehte sich um und da stand der Wichtel mit einer grossen Schar vor ihm: Elfen schwebten leichtfĂŒssig in der Luft, Gnome, Schrate und Sylphen standen hier, ja sogar die Wasserhexe war gekommen, und hatte der ihren mehr mitgebracht.
„Nun Johannes“, sagte der Wichtel freundlich, „wir sind heute zu dir gekommen, um dir zu sagen, dass du deine Aufgabe auf das Beste erfĂŒllt hast.“
„Ach, Wichtel“, antwortete Johannes, „dies ist, weiss Gott erst ein Anfang. Sieh doch, wie viele Menschen noch immer blind sind.“ Darauf schĂŒttelte das MĂ€nnchen den bĂ€rtigen Kopf . „Ich kenne die Menschenkinder besser als Du meinst. Gewiss, es ist erst ein Anfang, damit magst du Recht haben“, sagte es. „Dennoch ist deine Aufgabe gut erfĂŒllt. Immer mehr Menschen haben zu uns zurĂŒckgefunden. Tiefe Dankbarkeit erfĂŒllt unsere Wesen. Wisse wohl, dass du eine Belohnung verdient hast. Drei WĂŒnsche seien dir frei. Überlege aber gut, was du dir wĂŒnschest.“3

Da setzte sich Johannes auf einen der Steine und dachte lange nach. „Ich wĂŒnsche mir“, meinte er schliesslich, „ich wĂŒnsche mir, dass meine BrĂŒder ihren guten Weg mit meinen Schwestern weitergehen, damit Freundschaft und Friede unter ihnen wohnt.
Dann wĂŒnsche ich allen Menschen, dass sie ihre Kindheit ebenso wiederfinden mögen, wie ich es konnte.“ „Und dein dritter Wunsch“, forschte der Wichtel. „Worin besteht dieser? Sage ihn uns! WĂŒnschest du dir Reichtum oder BerĂŒhmtheit – so sei es dir gewĂ€hrt. Du musst es nur aussprechen.“
„Nein“, antwortete Johannes. „Reichtum wĂŒnsche ich mir nicht, auch keinen anderen Ruhm als mir bereits zuteilwurde. Aber ich weiss, wonach ich mich sehne. Seht mich an – wie alt bin ich doch geworden! Mein Haar hat die Zeit weiss gefĂ€rbt und Sonne, Regen und Wind haben ihre Spuren in Gesicht und Leib gegerbt. Mein ganzes Leben habe ich voller Liebe einer grossen Aufgabe gewidmet und nun bin ich doch schon sehr alt. Ich habe vieles erlebt, aber eines ist mir versagt geblieben: die Liebe eines Mannes zu einer Frau. Ich wĂŒrde gerne noch einmal jung sein.“

„Welch kluger Wunsch!“, rief die Wasserhexe begeistert und alle Wesen nickten dazu. Da lĂ€chelte auch der Wichtel. „Es sei dir gewĂ€hrt“, sagte er. „Deine WĂŒnsche seien erfĂŒllt.“
Als er dies ausgesprochen hatte, trat die Wasserhexe hervor und berĂŒhrte Johannes mit ihren HĂ€nden. In diesem Augenblick fielen die alten Kleider von ihm ab, seine Haut glĂ€ttete sich und sein Körper wurde wieder straff und jugendlich.
Selbst sein weisses Haar verwandelte die kleine Hexe, indem sie es schwarz und voll machte, damit es wieder glĂ€nzend sei und ĂŒber die Schultern fluten konnte, wie in seinen frĂŒhen Jugendjahren.
Johannes betrachtete dies mit grossem Staunen und Dankbarkeit. „Nun, Johannes“, sagte der Wichtel mit einem verschmitzten LĂ€cheln, „du hast die Gnade, ein sehr prĂ€chtiger junger Mann zu sein, deine Liebe in Herz und Augen wollen wir dir lassen, damit du wohl aussuchen kannst, welch eine Frau dir zum Weibe bestimmt ist.“
Voller Dankbarkeit verabschiedete sich Johannes sodann vom Wichtel und seinen Scharen, um nach Hause zurĂŒckzukehren.
Als er nach langem Weg in seiner Heimatstadt eintraf, hörte auch er die Glocken der Freude schlagen, da auch die anderen Menschen in ihre Kindheit zurĂŒckgefunden hatten. Damit konnten sie wieder in Freude und Achtung voreinander leben und verfielen nie mehr der Gier und der Habsucht.
Der Wichtel aber blieb stets an ihrer Seite, um zu erinnern, was Johannes gelehrt hatte.