Von Steve Taylor auf Wake Up World; übersetzt von Taygeta
Was sind spirituelle Erfahrungen?
Ich sehe spirituelle Erfahrungen nicht als etwas Religiöses. Ich fasse sie als Momente auf, in denen unser Bewusstsein intensiver und umfassender wird als sonst, so dass die Welt um uns herum realer und lebendiger wird und wir ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit der Natur und anderen Menschen spüren. Wir könnten ein Gefühl von Freude oder innerer Stille empfinden und spüren, dass die Welt um uns herum irgendwie „in Harmonie“ ist oder eine Bedeutung hat, die wir schwer ausdrücken können.
Wenn aber ein Mensch mit religiösem Hintergrund eine solche Erfahrung hat, kann er diese durchaus religiös interpretieren. Er könnte sie als Geschenk Gottes betrachten und glauben, dass die Lebendigkeit und Harmonie, die er wahrnimmt, ein Blick auf das Göttliche oder den Himmel ist. Wenn man jedoch nicht religiös ist, gibt es keinen Grund, so zu denken. Die Erfahrung ist dann ’nur‘ eine psychologische. Sie deutet darauf hin, dass unsere normale Sicht der Welt begrenzt und in gewisser Weise sogar anormal ist. Bei Erwachen-Erfahrungen gibt es ein starkes Gefühl, ‚mehr sehen zu können‘, über Grenzen hinauszugehen und eine authentischere Realität wahrzunehmen.
Meine Recherche zeigt, dass Erwachen-Erfahrungen mit bestimmten Aktivitäten und Situationen zusammenhängen. Sie können im Kontakt mit der Natur, mit spirituellen Praktiken wie Meditation oder Gebet, mit sportlichen Aktivitäten (wie Laufen und Schwimmen) und mit Sex verbunden sein. Sie können aber auch in Zusammenhang stehen mit Zuständen starker psychischer Unruhe. Das heißt, sie treten paradoxerweise oft inmitten von Stress und Depressionen oder in Verbindung mit traumatischen Lebensereignissen wie Krankheit, Scheidung oder Trauer auf. Eines der interessantesten Dinge an diesen Erfahrungen ist jedoch, dass sie anscheinend immer häufiger werden.
Immer mehr Menschen geben an, spirituelle Erfahrungen zu haben
Bei einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 1962 berichteten 22 Prozent der Amerikaner, dass sie „irgendwann eine religiöse oder mystische Erfahrung gemacht hatten“. Im Jahr 1994 beantworteten 33 Prozent der Befragten die gleiche Frage mit Ja, und im Jahr 2009 war dieser Anteil bereits auf 49 Prozent angestiegen. Untersuchungen des Pew Research Center in den USA zeigen einen ähnlichen Trend. Im Jahr 2007 berichteten 52 Prozent der Amerikaner, dass sie regelmässig ein „tiefes Gefühl von spirituellem Frieden und Wohlbefinden“ verspürten. Im Jahr 2014 waren es 59 Prozent. Im Jahr 2007 gaben 39 Prozent der Amerikaner an, dass sie regelmässig ein „tiefes Gefühl des Staunens über das Universum“ verspürten – eine Zahl, die 2014 auf 46 Prozent gestiegen war. Vielleicht ist es signifikant, dass diese Erhöhungen eng mit einem Rückgang des Interesses an organisierter Religion zusammenfielen.
In Grossbritannien haben die Umfragen des Forschungszentrums für spirituelle Erfahrungen ähnliche Ergebnisse erbracht. In einer Umfrage von 1969 wurde die Frage „Hast du jemals eine Gegenwart einer Höheren Macht erlebt (die du Gott nennen magst oder nicht), die sich von deiner alltäglichen Selbsterfahrung unterscheidet“ von 29 Prozent der Befragten positiv beantwortet. Im Jahr 1978 waren es 36 Prozent und 1987 dann 48 Prozent. Im Jahr 2000 gab es einen weiteren starken Anstieg auf 75 Prozent – also ein Anstieg um 27 Prozent in 13 Jahren, was zufällig oder nicht genau derselbe Wert war, um den der Kirchenbesuch im gleichen Zeitraum zurückging. (Von 1969 bis 2000 war es ein Anstieg auf rund das Zweieinhalbfache.)
Handelt es sich um eine kollektive Bewegung?
Warum sollten spirituelle Erfahrungen heute häufiger vorkommen als noch vor einigen Jahrzehnten? Könnte es einfach so sein, dass die Menschen besser darin werden, sie zu erkennen, oder dass sie offener sind, darüber zu sprechen? Weil es in unserer Kultur ein allgemeineres Bewusstsein für Spiritualität gibt und Konzepte wie „spiritueller Frieden und Wohlbefinden“ ein häufigerer Bestandteil von Erörterungen sind, könnte es einfach so sein, dass mehr Menschen ihre entsprechenden Erfahrungen auf diese Weise beschreiben, während sie in früheren Jahrzehnten vielleicht anders umschrieben wurden.
Aber vielleicht sollte man diese Resultate der Befragungen einfach auf den Punkt bringen: Vielleicht werden spirituelle Erfahrungen tatsächlich immer häufiger. Das ist der Ansatz, den ich in meinem neuen Buch ‚The Leap: The Psychology of Spiritual Awakening‘ verfolge. Ich meine, dass spirituelle Erfahrungen Einblicke sind in einen neuen Seinszustand, der für den Menschen langsam normaler wird. Dies ist ein höherfrequent arbeitender Zustand, den ich „Wachheitszustand“ nenne, in dem ein Mensch gesteigertes Wohlbefinden, Klarheit und Verbindung empfindet. Sie haben ein intensiveres Bewusstsein für die Welt um sie herum, ein größeres Gefühl der Wertschätzung der Natur, eine breite globale Perspektive und ein allumfassendes Gefühl der Empathie mit der gesamten Menschheit. In vielerlei Hinsicht ist es eine permanente, fortlaufende Variante der „Erwachen-Erfahrung“.
Ich habe viele Beispiele von Menschen gefunden, die inmitten heftiger psychischer Unruhen in diesen höher funktionierenden Zustand wechseln – zum Beispiel bei Trauer, schwerer Krankheit oder Alkoholismus. Ich beschreibe einige dieser Beispiele in ‚The Leap‘. Diese Verschiebung ist durchaus üblich und kann als eine Variante des „posttraumatischen Wachstums“ angesehen werden – die ich manchmal auch „posttraumatische Transformation“ nenne. Es gibt auch Hunderte von Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die allmählich die Wachheit kultivieren, indem sie spirituelle Praktiken wie Meditation und Dienst (an anderen) oder spirituelle Wege befolgen wie Buddhismus, Yoga oder Kabbala. Das ständig wachsende Interesse an Selbstentfaltung, spirituellen Praktiken und entsprechenden Traditionen ist einer der bedeutendsten kulturellen Trends unserer Zeit.
Es scheint mir, dass wir eine Zeit des kollektiven Erwachens erleben, das sich auf verschiedene Weise manifestiert – eine davon kann die zunehmende Häufigkeit spiritueller Erfahrungen sein.