Saṃskāra und die Einflüsse von früheren Leben

Von Hareesh (Christopher Wallis) auf seinem Blog hareesh.org; übersetzt von Taygeta

Die yogische Theorie von Saṃskāras, der Auswirkungen unterschwelliger Eindrücke vergangener schmerzhafter oder angenehmer Erfahrungen, ist einer der faszinierendsten Beiträge Indiens zu unserem Verständnis der menschlichen Psyche. Kurz gesagt, wenn wir eine intensive Abneigung gegen eine schmerzhafte Erfahrung oder eine starke Bindung an eine angenehme Erfahrung erleben, dann wird durch diese Erfahrung ein Eindruck in unserer Psyche verankert, der später als ein „Samen“ dieser Erfahrung wieder aufkeimen kann.

Mit anderen Worten, wenn wir nicht in der Lage sind, eine bestimmte Erfahrung vollständig „zu verdauen“, wird ein Überrest davon in unserer Psyche gespeichert – oder, um einen Begriff aus der Tantrik-Theorie zu verwenden, im „subtilen Körper“ abgelagert, der eine Erweiterung der Psyche ist. Es wird gesagt, dass der subtile Körper den physischen Körper in der Weise durchdringt und ihm zugrunde liegt, dass dies als eine Art Grundstruktur verstanden werden kann um zu erklären, wie ungelöste vergangene Erfahrungen unsere gegenwärtige Beziehung zum Körper (und seiner Gesundheit) prägen. In der Tantrik-Psychologie wird die Metapher der Verdauung verwendet: wenn wir eine bestimmte Erfahrung nicht vollständig „verdauen“ können, wird ein Teil der „Energie“ dieser Erfahrung deponiert und muss später verdaut werden, hoffentlich bevor sie uns vergiftet und dadurch unsere Erfahrung mit den Menschen und Ereignissen in der Gegenwart verzerrt.

Diese Beschreibung ist natürlich übervereinfacht. Tatsächlich aber trägt jeder eine ganze Reihe von Saṃskāras aus diesem Leben und früheren Leben (da der subtile Körper nicht mit dem physischen stirbt) mit sich herum, und diese Eindrücke prägen unbewusst unsere Präferenzen und die Annahmen – die wir dann auf die Menschen und Situationen projizieren, denen wir begegnen. Je stärker der emotionale Einschlag einer Erfahrung ist, desto tiefer ist die entstehende Einprägung [in unserem subtilen Körper], und es entsteht ein ganzes Netzwerk von Eindrücken, die als Filter für unsere Wahrnehmung der Realität dienen. Einige dieser Einprägungen sind „giftig“ in dem Sinne, dass sie so stark sind, dass sie übertriebene Angstreaktionen hervorrufen, wenn keine (oder nur eine leichte) Bedrohung vorliegt, oder Anhaftungen an Menschen oder Dinge erzeugen, die eigentlich nicht sehr gesund für uns sind.

Mit Hilfe dieses „Samskāra-Netzes“ projizieren wir unsere vergangenheitsbezogenen Annahmen, Ängste und Erwartungen auf die gegenwärtige Situation; daher sind wir möglicherweise nicht in der Lage, mit der Realität unserer gegenwärtigen Situation „fertigzuwerden“. Das Ziel des Yoga kann als „die Realität klar sehen“ formuliert werden kann, und deshalb ist es von grösster Bedeutung, sich der Samskāras, die unsere Sicht trüben, bewusst zu werden und sie dann aufzulösen. Die Samskāra-Theorie ist für die Yogapsychologie weitaus wichtiger als das Konzept vom Karma. Karma, könnte man sagen, bietet uns einfach die Gelegenheit, uns des Gepäcks aus Samskāras bewusst zu werden (denn unser Karma wird definitiv Situationen schaffen, in denen diese Samskāras getriggert werden) – wodurch uns dann bewusst wird, was wir loslassen müssen.

Als Ergebnis des spirituellen Erwachens werden wir uns unserer selbst bewusster und damit auch unserer Saṃskāras und wie sie unsere Wahrnehmung verzerren. So können wir sie dann ausgleichen – zum Beispiel, anstatt einen geliebten Menschen für eine Emotion verantwortlich zu machen, die in einem aktuellen Moment entsteht, erkennen wir, dass die Emotion nur der Auslöser ist für die Aktivierung eines alten Saṃskāra, und damit wird sich unsere Sprache zu von Aussagen der Art „Du kümmerst dich nicht um mich“ übergehen zu Formulierungen wie „Ich werde gerade jetzt getriggert, und deshalb fühle ich mich mit dir gerade nicht so wohl, auch wenn ich es sein müsste“. Mit der Zeit, wenn wir uns immer besser kennenlernen, werden wir auch fähig, durch die Schleier der Saṃskāras hindurchsehen und den Unterschied zu erkennen zwischen der tatsächlichen Realität und den emotionalen Überresten der Vergangenheit.

Aber natürlich wollen wir alle die Saṃskāras auflösen, denn auch wenn wir uns selbst gut kennen, wird die emotionale Stärke der Saṃskāras bei uns immer bis zu einem gewissen Grad etwas auslösen. Es wird gesagt, dass die spirituelle Praxis die Samen der Saṃskāras verbrennen wird, damit sie nicht wieder spriessen können. Wie kann das zustande kommen? Drei Dinge sind notwendig: den Körper öffnen, den emotionalen Kern offenlegen und die Selbsterforschung. Das erste kann durch eine physische Yogapraxis (oder eine andere tiefe somatische Arbeit) angegangen werden, so dass Taschen mit „stagnierender Energie“ im Körper geöffnet werden, was zu emotionaler Entspannung führen wird.

Das zweite wird durch eine Praxis des Stillsitzens und Hinhörens angesprochen, eine spezifische Art der Meditation, in der man einen offenen Raum schafft, in dem ungelöste Saṃskāras auftauchen und freigesetzt werden können. Ich benutze den Sanskrit-Begriff Bhāvanā für diese Art der Meditation, bei der man alle Techniken und alle Faszination für veränderte Zustände (Trance, Glückseligkeit, etc.) loslässt und zu einer einfachen offenen Haltung von „Ich bin bereit zu sehen, was gesehen werden muss; Ich bin bereit zu fühlen, was gefühlt werden muss“ übergeht. Diese Art der Meditation muss kultiviert werden. Das wahrscheinlich beste Buch darüber ist ‚True Meditation‘  von Ādyashānti, in dem, obwohl Saṃskāras nicht erwähnt werden, sorgfältig beschrieben wird, wie man die Art von Praxis kultiviert, die deren Auflösung erlaubt.

Als drittes ist die kritische Selbsterforschung (ātma-vichāra) erforderlich: kritisch nicht in einem wertenden Sinne, sondern im Sinne einer sorgfältigen Überprüfung deines inneren Wesens, um sicherzustellen, dass du nicht in Verleugnung bist (z.B. wenn du denkst, dass du etwas „erledigt“ hast, dies aber nicht wirklich der Fall ist). Für diese dritte Praxis ist es von unschätzbarem Wert, einen weisen Lehrer, Coach oder spirituellen Freund zu haben, der als Spiegel dient. Ohne unnachgiebige Selbstreflexion kann die spirituelle Reise zum Stillstand kommen und in einer Spur stecken bleiben (auch wenn es eine angenehme Spur ist).

Schliesslich können wir Saṃskāras auch in unserem täglichen Leben auflösen, wann immer sie gerade getriggert werden. Was wirklich eine gute Nachricht ist. Wenn ein Saṃskāra ausgelöst wird, ist dies eine goldene Gelegenheit: Wenn du mit der aufkommenden Emotion (z.B. Angst, Schmerz oder Verlangen) voll präsent sein kannst, und indem du ihr erlaubst, vorüberzugehen, ohne sie oder dich selbst dafür zu verurteilen, dann wird ein Teil des Samskāras, aus der die Emotion hervorgekommen ist, aufgelöst. Es ist wichtig, auf ein Urteilen zu verzichten, denn alle wertenden Urteile sind eine Form des Widerstands gegen die Realität, und es auch ist der Widerstand, der Saṃskāras schafft und stärkt. Beachte, dass selbst eine Bindung [im Sinne einer Anhaftung] eine Form des Widerstandes ist, denn eine Anhaftung beinhaltet (unter anderem) das Gefühl „Ich will nicht, dass das weggeht“ und damit ein Widerstand gegen die Realität der Vergänglichkeit. Die westliche Psychologie konzentriert sich stark auf den Schmerz und seine Heilung – aber in der Yogapsychologie bedürfen auch die Samskāras, die sich aus unseren Erfahrungen von Vergnügen oder Genuss ergeben, ebenso sehr einer „Heilung“; denn allfällige Anhaftungen, die auf der Grundlage solcher Erfahrungen existieren, sind ebenso trübend für unsere Fähigkeit, die Realität zu erfahren, wie sie die schmerzbasierten Samskāras der Abneigung sind – und beide Arten von Samskāras behindert auch unsere Fähigkeit, wahre Freude zu erlangen (ānanda).

Es gibt keinen andern Weg als dass wir da hindurch gehen. Saṃskāras gehen nicht von selbst weg, und bevor sie nicht aufgelöst sind, bist du nicht wirklich frei. Obwohl viele leichtere Saṃskāras zum Zeitpunkt des Todes abfallen, werden die tiefer verankerten in das nächste Leben übernommen, und in das nächstfolgende Leben usw., bis sie alle geheilt sind. Dies erklärt, warum Menschen manchmal intensive traumatische Emotionen erleben, die unverhältnismässig erscheinen im Vergleich mit allem, was im gegenwärtigen Leben passiert ist. Wenn du zum Beispiel in einem früheren Leben als „Hexe“ verbrannt wurdest, wird selbst eine leichte Verfolgung oder Ausgrenzung in diesem Leben eine intensive emotionale Reaktion auslösen. Es gibt unzählige weniger dramatische Beispiele. Saṃskāras aus vergangene Leben können auch Phobien erklären, die nicht aus einer Erfahrung aus dem aktuellen Leben stammen. Aber auch intensive Ängste können nach und nach aufgelöst werden, indem wir unsere Fähigkeit kultivieren, sie einfach durchzulassen.

Die Praxis des unvoreingenommenen Erlaubens löst Saṃskāras nicht nur auf, sondern verhindert auch, was ebenso wichtig ist , dass neue abgelagert werden. Wenn wir neue Erfahrungen und Emotionen durch uns hindurchgehen lassen, ohne uns an sie zu klammern oder sich ihnen zu widersetzen, wird kein neues Saṃskāra abgelegt, und damit befreien wir auch unser zukünftiges Selbst.

Postscript: Nachdem ich das alles gesagt habe, möchte ich hinzufügen, dass ich keine besondere Faszination für die Beschäftigung mit vergangenen Leben oder die Reinkarnationstherapie habe. Warum? Die Yoga-Sūtras, die Bhagavad-Gītā und die Tantrik-Philosophie (meine primären Quellen für diesen Beitrag) sagen uns alle, dass eine Yogapraxis (die die Meditation vom Typ Bhāvanā beinhaltet) an sich letztendlich alle Samskāras auflösen wird, und zwar in einem Tempo, das allein durch die Klarheit der eigenen Absicht, die Strenge der eigenen Selbsterforschung und die Intensität der eigenen spirituellen Praxis bestimmt wird. Modalitäten, die von Experten oder Therapeuten abhängig sind – wie die Psychotherapie – können hilfreich sein, sind aber nicht unbedingt notwendig, denn zum Glück müssen wir uns nicht an jede schmerzhafte Erfahrung erinnern, um sie zu heilen.