geschrieben von Paul Levy, Awaken In The Dream, erschienen auf Waking Times, übersetzt von Antares
Wir leben in einer Zeit, in der eine grosse Dunkelheit in unserer Welt auftaucht. Der grosse Seelendoktor C. G. Jung, der die Idee der Existenz des Schattens innerhalb der menschlichen Psyche aufbrachte, hatte sehr wertvolle Einsichten in die Natur der psychologischen Situation heutzutage in der Welt, insbesondere in die Rolle, die die Dunkelheit des Schattens in unserer modernen Welt spielt. Jung verspürte, das katastrophale Böse, das sich heute in unserer Welt manifestiert, ist ein archetypischer Ausdruck des Prozesses des Übergangs der Menschheit von einer Epoche – und einem Bewusstseinszustand – zur / zum nächsten. Er war der Meinung, das Schicksal der Welt hänge buchstäblich davon ab, dass wir die Schattenelemente in uns erkennen und sie in ein erweitertes Selbstverständnis integrieren, das sowohl unsere lichten als auch unsere dunklen Aspekte mit einschliesst.
Was wir in uns nicht akzeptieren, sondern aus unserem Selbstbild ausschliessen und in die Schatten der Unterwelt des Unbewussten verdrängen – ihm damit das Licht entziehend – wird toxisch. Diese unterdrückten Schatteninhalte laden sich im Unbewussten auf und werden mit archaischen archetypischen Energien aus dem kollektiven Unbewussten kontaminiert. Es ist wahrlich erschreckend, wie viele von uns so wenig Kontakt zu unserem eigenen Schatten haben, dass wir leicht zu unbewussten Instrumenten werden können, durch die das archetypische Böse, das in der dunklen Seite der menschlichen Psyche verborgen liegt, durch uns in die Welt hinein wirken kann.
Wir denken noch immer, wir sind „simplex und nicht duplex“ (etwa: ,einfach und nicht doppelt’), um Jungs Worte zu nutzen. Wir stellen uns somit vor, wir seien „unschuldig, vernünftig und menschlich“. Wir leugnen nicht, dass schreckliche Dinge geschehen, doch da wir uns selbst für harmlos halten, gibt Jung zu Bedenken, „sind es immer ,die anderen’, die jenes tun“. Wenn wir nicht mit dem potenziell Bösen in Berührung kommen, das in uns wohnt, projizieren wir es in einem vergeblichen Versuch, es zu verleugnen, nach aussen und werden somit Opfer des Bösen, von dem wir uns in uns selbst abwenden, und handeln unbewusst in der äusseren Welt. Das Böse gedeiht, wenn wir die Augen davor verschliessen.
Um Jung zu zitieren: „Das Böse ist heutzutage zu einer sichtbaren Grossmacht geworden … Wir stehen vor der schrecklichen Frage des Bösen und wissen nicht einmal, was vor uns liegt, geschweige denn, was wir dem entgegensetzen werden.“ Die meisten gewöhnlichen, psychologisch und / oder spirituell unterentwickelten Menschen haben Schwierigkeiten, sich die äusserste Verdorbenheit des Bösen vorzustellen, das sich potenziell durch Einzelpersonen oder Gruppen (um nicht zu sagen – durch sie selbst) ausbreiten kann, die vom Machtwillen des Schattens ergriffen wurden. Um ein Gespür zu entwickeln, wie wir das Böse händeln mögen, müssen wir jedoch als Erstes versuchen, die Natur des Biestes zu verstehen, mit dem wir es zu tun haben.
Der erste Grundsatz der psychologischen Methode lautet, sich jedes Phänomen, das man verstehen will, mitfühlend vorzustellen. Kein Syndrom kann wahrhaftig aus seinem verfluchten Zustand befreit werden, bevor wir nicht zuerst unsere Vorstellungskraft in sein Herz, sein ,Innerstes’ eindringen lassen. Einer der entscheidenden, massgeblichen Schritte im Umgang mit dem Bösen besteht gemäss Jung darin, eine „Vorstellungskraft für das Böse“ zu entwickeln, wie er es nennt. Wenn wir uns das Böse, zu dem Menschen potenziell fähig sind – und zu dem auch wir selbst unter den richtigen Umständen fähig sein könnten – in unserer Naivität nicht vorstellen können, offerieren wir uns dem Bösen in dessen ,Hände’ hinein. Wenn sich das Böse der Reichweite unserer Vorstellungskraft entzieht, wird es uns gegenüber diktieren, sich durchsetzen und die Herrschaft über uns erlangen, sowohl in unserer Vorstellung als auch in unserem konkreten Leben. Da unsere Vorstellungskraft uns dabei helfen kann, das Böse in den Griff zu bekommen, versucht das Böse, die Vorstellungskraft zu unterdrücken und letztendlich zu zerstören, weswegen die Mobilisierung der kreativen Vorstellungskraft für den Umgang mit den Mächten der Finsternis entscheidend ist.
Wenn wir keine Vorstellungskraft für das Böse entwickeln, können wir den Kontakt zu unserem eigenen Schatten verlieren und uns mit dem identifizieren, was Jung als „fiktive Persönlichkeit“ bezeichnet, wir spalten uns somit von unserer Dunkelheit ab und stellen uns vor, jemand zu sein, der wir nicht sind – eine „Light“-Version unseres Selbst. Wir alle haben eine dunkle Hälfte, doch in dem Ausmass, in dem wir uns auf Kosten der Dunkelheit in uns zu sehr mit unserer hellen, ,lichten’ Seite identifizieren, sind wir am Ende unfähig, uns die Tiefen der Dunkelheit vorzustellen, zu denen wir eben selbst fähig sind. Jung bringt ganz offen und ehrlich den Punkt auf, indem er schreibt: „Wir sind stets, dank unserer menschlichen Natur, potenzielle Verbrecher. In Wirklichkeit fehlte uns nur eine geeignete Gelegenheit, um in das höllische Handgemenge hineingezogen zu werden“. Wir sind alle untrennbar miteinander verbunden und nehmen Anteil am gemeinsamen kollektiven (dunkleren) Unbewussten der Menschheit – der Schattenseite des Menschseins – weswegen Jung schrieb: „Niemand von uns steht ausserhalb des schwarzen kollektiven Schattens der Menschheit.“
Es gibt unpersönliche Mächte, die den kollektiven Schatten, der in unserem Unbewussten lauert, antreiben und informieren. Jung sagt: „Wir sind uns dieser Kräfte glücklicherweise nicht bewusst, weil sie niemals oder fast nie in unseren persönlichen Beziehungen oder unter gewöhnlichen Umständen auftreten. Doch, wenn sich Menschen zusammentun und einen Mob bilden, dann werden die Dynamiken des kollektiven Menschen freigelassen – Bestien oder Dämonen, die in jedem Menschen schlummern [und nun freigegeben werden] … Die Veränderung des Charakters, die durch den Ansturm der kollektiven Kräfte hervorgerufen wird, ist erstaunlich. Ein liebenswürdiges und vernünftiges Wesen kann sich in einen Wahnsinnigen oder in eine wilde Bestie verwandeln.“ Die Petrischale der Massen ist ein Nährboden, auf dem das Böse gedeiht und sich ausbreitet. Wir händeln nicht nur die rein persönlichen Kräfte, die mit uns als Individuen zu tun haben, sondern die unpersönlichen, transpersonalen Kräften – die „Mächte und Gewalten“ der Bibel.
Diese kollektiven, unpersönlichen und archetypischen Kräfte können so überwältigend sein, dass – wenn wir in einer grösseren Gruppe zusammenkommen – sie ein scheinbares Eigenleben annehmen, von unserer egoistischen Identität Besitz ergreifen und uns zu ihrem Zubehör machen, so dass wir zu ahnungslosen Marionetten dieser Kräfte werden. Kollektive Besessenheit kann sich leicht in eine psychische Epidemie wandeln – eine kollektive Psychose – etwas, bezüglich dessen wir in Zeiten wie den unseren, in denen die Gewalt des Mobs in unserer Welt zunimmt, in Alarmbereitschaft sein sollten.
Jung schreibt: „Die gigantischen Katastrophen, die uns heute drohen, sind keine Elementarereignisse physischer oder biologischer Art, sondern psychische Ereignisse … In jedwedem Augenblick können mehrere Millionen Menschen von einem neuen Wahnsinn befallen werden, und dann könnten wir einen weiteren Weltkrieg oder eine verheerende Revolution haben … der moderne Mensch wird von den elementaren Kräften seiner eigenen Psyche zerschmettert. Das ist die Weltmacht, die alle anderen Mächte auf der Erde bei weitem übertrifft.“ Mit anderen Worten: Die Grossmacht – und scheinbar dunklere Macht – die uns heute bedroht, ist dort zu finden, wo sie ihren Ursprung hat, in unserer Psyche. Wir sollten die primäre Rolle nicht länger unterschätzen, die die Psyche im Weltgeschehen spielt, sondern vielmehr anerkennen.
Der nächste Schritt im Umgang mit dem Bösen, der – in Jungs Worten – zu erledigen ist, dreht sich darum: „was wir ihm entgegensetzen können“ -, es gilt zu erkennen, die Dunkelheit in unserer Welt offenbart uns etwas in uns selbst, das uns zu wissen obliegt. Nach der Lösung für das weltweite Problem des Bösen ausserhalb von uns selbst zu suchen, bedeutet, uns selbst von der Quelle des Problems (und der möglichen Lösung) zu distanzieren und abzulenken, die, wie Jung immer wieder betont, nur im Individuum selbst zu finden ist. Obwohl die Wurzeln des Bösen nur im Inneren des Individuums entdeckt werden können, bedeutet dies nicht, dass die Kräfte des Bösen, die in der individuellen Psyche angetroffen werden, nur eine persönliche Angelegenheit sind. Beim Vordringen in unsere eigenen Tiefen können wir potenziell den unermessllichen und furchterregenden Kräften des archetypischen, kollektiven Schattens in uns selbst gegenübertreten, da wir alle im tiefsten Innern unseres Wesens fundamental mit der transpersonalen Psyche verbunden sind, sowohl in ihren lichten wie auch in ihren dunklen Aspekten.
Ein Versagen der Vorstellungskraft war die Ursache für einige der grössten Katastrophen der Weltgeschichte. Jung tat die Ansicht kund, dass, falls wir keine Vorstellung vom Bösen haben, „das Böse uns in seinem Griff hat“. Wenn wir keinen Kontakt zu unserem eigenen Potenzial für das Böse haben, gewährleistet dies, dass wir es unbewusst ausleben. Wenn wir keine facettenreiche Vorstellungskraft für das Böse entwickeln, haben wir keine Möglichkeit zu wissen, womit wir es zu schaffen haben. Unser Mangel an Vorstellungskraft für das Böse ist der beste Weg, uns, um es mit Jungs Worten zu sagen, „zu einem Instrument des Bösen“ zu machen. Unser Mangel an Kenntnis über das Böse, zu dem jeder von uns fähig ist, beraubt uns, um Jung zu zitieren, „der Fähigkeit, das Böse zu händeln“. Wir müssen mit der Dunkelheit innerhalb von uns selbst auf vertrautem Fuss sein und sie kennen, falls wir irgendwelche Hoffnung haben wollen, mit der Dunkelheit in der Welt als Ganzes wirksam umgehen zu können.
Es ist absolut von Bedeutung, dass wir das Vorstellungsvermögen kultivieren, damit wir mit dem Bösen in unserer Welt umgehen. „Das Böse“, schreibt Jung, „kann nicht mehr durch eine umständliche Formulierung aus der Welt geschafft werden. Wir müssen lernen, mit ihm umzugehen, denn es ist da, um zu bleiben.“ Wir können dies verleugnen, so viel wir wollen, darauf bestehen, blind zu bleiben – wie Strausse, die den Kopf in den Sand stecken. Wir kommen jedoch nicht um jene Tatsache herum – um unsere Verbindung zum Licht zu finden und zu vertiefen – sind wir dazu bestimmt, uns mit der dunklen Seite von uns selbst und dem Universum als Ganzem auseinanderzusetzen, die nur durch die Nähe und Intensität eines grossen Lichts sichtbar wird.
Unseren Schattens zu integrieren ist kein intellektuelles Unterfangen, sondern ein moralisches Problem, das den ganzen Menschen herausfordert. Sich des Schattens bewusst zu sein, ist für jedes Mass an Selbsterkenntnis unerlässlich. Der Prozess der Erhellung des Schattens bringt in der Regel ziemlich starken inneren Widerstand auf, denn die Unwissenheit hat eine Trägheit, die überwunden werden muss, um dem Licht der Selbsterkenntnis Platz zu machen.
Um Jung zu zitieren: „Der Einzelne, der eine Antwort auf das Problem des Bösen haben möchte, wie es sich uns heute darstellt, bedarf daher zuallererst der Selbsterkenntnis, d.h. der grösstmöglichen Kenntnis um seine eigene Ganzheit.“ In unserer heutigen katastrophalen Zeit ist das Wissen um die innerste Grundlage unseres Seins – unsere innere Ganzheit – absolut unerlässlich. Jung schliesst: „Die individuelle Selbstreflexion, die Rückkehr des Individuums zum Boden der menschlichen Natur, zu seinem eigenen tiefsten Wesen … hier ist der Beginn einer Heilung für die Blindheit, die in der gegenwärtigen Stunde herrscht.“ Wann immer wir über uns selbst nachdenken, stossen wir unweigerlich auf die lebendigen Grenzen des Unbewussten selbst, wo die ureigene Medizin zu finden ist, die unsere Blindheit heilt.
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