geschrieben von Gary Z. McGee auf Waking Times, übersetzt von Antares
„Carpe diem, quam minimum credula postero: Nutze den Tag, vertraue nicht auf das Morgen.“ ~ Horaz
Die Alchemie ist die Kunst der Transformation. Selbstauferlegte Alchemie ist die Kunst der Transformation von der Selbst-Aufrechterhaltung (Blei) zur Selbst-Überwindung (Gold). Sie ist „auferlegt“, da der Prozess anfangs recht unangenehm ist. Um zu wachsen, muss man die eigene Komfortzone verlassen. Man muss einen unabhängigen Sprung des Mutes aus dem Co-abhängigen Zustand wagen, um zu verstehen, die eigene wahre Essenz ist ein Zustand der ineinandergreifenden Abhängigkeit, ein Umstand des Miteinanderverbundenseins aller Dinge.
Um mit der Selbstverbesserung behaglich zu werden, muss man zuerst das Unwohlsein des anfänglichen Wachstums spüren. Schliesslich kann die nächsthöhere Technik des existentiellen Masochismus verwendet werden, und das Unbehagen wird sich augenblicklich in Wohlbefinden verwandeln. Doch zunächst ist eine selbst-auferlegte Alchemie erforderlich.
Du kannst es als Schockwirkung, als Weckruf, rücksichtslose Initiation oder aufmerksames Schicksal bezeichnen, in jedem Fall ist es selbst-auferlegt, wenn es als Werkzeug für einen Mutsprung herangezogen wird. Und es ist alchemistisch, wenn eine These des Selbst und eine Antithese des Selbst getrennt werden und dann in eine robustere, widerstandsfähigere, antifragilere Synthese des Selbst integriert sind.
Die selbstauferlegte Alchemie kann in drei Schlüssel-Transformationen (oder Praktiken) aufgegliedert: gesund von ungesund abzutrennen, Rigidität von Resilienz abzutrennen und Unsicherheit von Gewissheit abzutrennen. Lass uns das betrachten …
Das Gesunde vom Ungesunden trennen:
„Ein gesunder Geist erfordert einen gesunden Körper, und beide zusammen sind abhängig von einer gesunden Gesellschaft in harmonischer Beziehung zur Erde.“ ~ Louis G. Herman
Ein bekanntes alchemistisches Sprichwort lautet: solve et coagula, et habebis magisterium! (Löse und verbinde, und du wirst die Magisterie haben!). Die Auflösung des Selbst ist dem ähnlich. Das Selbst in seiner Beziehung zum Kosmos ist in sich selbst eine Trennung. Wir müssen verstehen, obwohl wir in der Tat eins mit allem sind und alles mit allem verbunden ist, sind wir in der Wahrnehmung ebenso ein einziges Individuum. Und das Individuum muss gesund sein, um das Ganze zu verwirklichen (Selbst-Verwirklichung).
Das Überleben erfordert Gesundheit. Gesundheit erfordert zunächst eine Trennung, dann die Reinigung und schliesslich eine Koagulation. Dies ist ein alchemistischer Prozess. Er wird selbstauferlegt, wenn wir ihn trotz des Unbehagens an uns selbst anwenden.
Um gesund zu bleiben, brauchen wir als erstes Sauerstoff. Ohne Sauerstoff wird das Individuum innerhalb weniger Minuten sterben. Das nächste, was wir brauchen, ist Wasser, dann Nahrung, dann menschliche Gesellschaft und so weiter und so fort in der Maslowschen Bedürfnishierarchie. Ohne diese Grundbedürfnisse jedoch werden wir krank, ungesund oder können sogar sterben.
Daher können wir nunmehr schlüssig erklären, dass es grundsätzlich ungesund ist, auf Sauerstoff zu verzichten (oder verschmutzte Luft zu atmen), verschmutztes Wasser zu trinken, verschmutztes Essen zu essen und sich mit verschmutzter menschlicher Gesellschaft zu umgeben. Doch ironischerweise – und kontraintuitiv – wird uns erst dann wirklich klar, wie gesund / ungesund es ist, wenn wir das Selbst von dem notwendigen Element trennen. Zum Beispiel, wenn wir den Atem anhalten, oder wenn wir Atemübungen machen, oder wenn wir fasten, oder wenn wir zu lange ohne menschlichen Kontakt bleiben. Die Trennung verschärft das Bedürfnis. Und kontrollierte Trennung (wie Fasten oder Einsamkeit) kann für den Einzelnen gesünder sein.
Wenn die Trennung des Gesunden vom Ungesunden eine grundlegende Alchemie ist, dann ist die Reinigung des Ungesunden durch das Gesunde eine strategische Alchemie.
Leider leben wir in einer zutiefst kranken Gesellschaft: Jede Gesellschaft, die ihre eigene Luft, ihr Wasser, ihre Nahrung und ihren Verstand verschmutzt (oder eben verschmutzen ,muss’), ist eine zutiefst kranke Gesellschaft. Folglich bedeutet die Reinigung in der Regel eine Form der Rebellion gegen diese kranke Gesellschaft.
Bedenke dabei, die meisten Bürger einer zutiefst kranken Gesellschaft wurden einer Gehirnwäsche unterzogen, um zu glauben, dass verschmutzte Luft, verschmutztes Wasser, verschmutzte Nahrung und sogar verschmutzter Geist einfach „einfach so sind, wie sie sind“, und daher werden sie typischerweise apathisch oder sogar vorsätzlich ignorant sein bezüglich des grundlegenden Unterschiedes zwischen gesund und ungesund in unserer Gesellschaft. Doch, wie Krishnamurti sagte, „es ist keine Frage der Gesundheit, sich an eine zutiefst kranke Gesellschaft anzupassen“.
Nach der Trennung und der Reinigung (oder Aussöhnung) folgt die Koagulation (oder Verschmelzung). Wir müssen das Selbst von seiner Co-Abhängigkeit trennen, um unabhängig genug zu werden, um unsere ungesunden Beziehungen zu reinigen, und um gewahr genug zu werden, um alles in eine harmonische Interdependenz zu integrieren (Koagulation).
Eine gesunde und harmonische Interdependenz kann nicht aus einem ungesunden Zustand der Co-Abhängigkeit heraus erreicht werden, der sich nicht dessen gewahr ist, was gesund ist und was nicht. Es muss eine Trennung geben (einen Sprung des Mutes), damit eine Reinigung stattfinden kann (Auflösung ungesunder Gewohnheiten durch gesundes Handeln), damit eine Koagulation stattfinden kann (Re-Integration des gesunden Individuums als vitaler Katalysator für das interdependente Ganze).
Der Unterscheidung zwischen Starrheit und Resilienz:
„Die Dinge fallen auseinander; das Zentrum kann sie nicht festhalten.“ ~ W.B. Yeats
In einem sich verändernden Universum ist es ungesund, willentlich ,der Gleiche‘ zu bleiben. Nur Menschen sind verrückt genug, so unnachgiebig zu sein, sagt man. Wir klammern uns an das Bekannte, an unsere kulturelle Konditionierung, an unsere erstickenden Komfortzonen. Wir bleiben stecken. Wir werden verhärtet und brüchig. Dann sind wir nicht länger in der Lage, uns anzupassen und Hürden zu überwinden. Unsere Starrheit wird zu einer schweren Unflexibilität.
Der einzige Weg, um dort wieder herauszukommen, besteht darin, dass sich das Zentrum auflöst und das wahnhafte Fundament in sich kollabiert. Dies geschieht in der Regel nach jahrelanger Unterdrückung und willentlicher Ignoranz und kann in der Tat wahrlich gefährlich sein: psychologisch, spirituell und sogar existenziell. Auf lange Sicht verstärkt eine derartige vorsätzliche Ignoranz die Selbst-Aufrechterhaltung auf Kosten der Selbst-Überwindung und um den noch grösseren Preis des ungelebten Lebens.
Durch den Einsatz von selbstauferlegter Alchemie können wir jedoch unsere Resilienz (Widerstandsfähigkeit / Belastbarkeit) wie einen Mantel der Flexibilität aufrechterhalten, der die Starrheit abwehrt.
Wenn wir das, was transformativ ist, von dem abtrennen, was nicht transformativ ist, entdecken wir den Unterschied zwischen dem, was wir kontrollieren können, und dem, was wir nicht kontrollieren können. Nur, weil die Schwerkraft auf einem Planeten starr ist, der sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit um einen Stern dreht, heisst das nicht, dass wir nicht flexibel sein können (Flugzeuge, Fallschirme, Aufzüge). Und wir sollten auf keinen Fall starr sein, was das betrifft.
Starrheit führt zu Verdrängung, die zu De-Evolution und einer Reihe von Geisteskrankheiten und Ängsten führt. Wir hätten es als Spezies zu gar nichts gebracht, wenn wir starr, dogmatisch und engstirnig in unserer Sichtweise geblieben wären. Resilienz und Flexibilität führen zu Robustheit und Antifragilität.
Wir klären unsere Starrheit und Inflexibilität, indem wir bei jenen Dingen, die wir kontrollieren können, proaktiv sind und uns selbst verbessern, und bei all den Dingen, die wir nicht kontrollieren können, mit dem Strom schwimmen. Dies führt zu Kreativität, Innovation, tiefer Vorstellungskraft und fortschreitender Entwicklung (Koagulation und Koaleszenz).
Wir verhindern Starrheit und erhalten unsere Widerstandsfähigkeit aufrecht durch das Verständnis dessen, was selbsttransformativ ist und was nicht, indem wir uns durch flexible Selbstverbesserung klären und dann durch Innovation und fortschreitende Evolution koagulieren. Auf diese Weise wird die Selbst-Überwindung zum Standard und nicht die Starrheit der Selbst-Aufrechterhaltung.
Die Ungewissheit von der Gewissheit trennen:
„Eine verzweifelte Krankheit erfordert ein gefährliches Heilmittel.“ ~ Guy Fawkes
Wenn es um die Wahrheit geht – und die Suche nach der Wahrheit – zählt die Beweisbarkeit. Das Problem ist, der Mensch ist eine fehlbare Spezies. Wir sind für Fehler anfällig. Wir mis-interpretieren die Realität oftmals und werden Opfer der Ungültigkeit. Was gültig ist und was nicht, ist keine Ansichtssache, ebensowenig wie das Konzept, was gesund ist und was nicht. Vielmehr wird dies von der Realität diktiert, die kompromisslos ist mit ihren universellen Gesetzen. Es ist ganz allein unsere Verantwortung, diese Gesetze richtig zu interpretieren. Das Problem ist, die meisten von uns gehen mit ihren Interpretationen unverantwortlich um.
Bestimmtheit und blinder Glaube sind die Hauptschuldigen für diese Verantwortungslosigkeit. Egal, ob aufgrund von kultureller Prägung, religiöser Indoktrination oder politischer Programmierung, Bestimmtheit und blinder Glaube führen zu vorsätzlicher Ignoranz gegenüber universellen Gesetzen.
Es ist besser, nicht sicher zu sein. Besser, nicht zu glauben. Es ist besser, offen und unbestimmt zu sein, Autoritäten in Frage zu stellen, als verschlossen und sicher zu sein, den Autoritäten glaubend. Erneut, dies liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Individuums. Echtheit kann niemals erlangt werden, solange der Einzelne es nicht wagt, die Autorität und ihre überlieferte Wahrheit in Frage zu stellen.
Denke daran: Menschen sind fehlbar und unvollkommen, selbst Menschen mit Autorität. Daher besteht die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden – ja, die einzige Möglichkeit, die Wahrheitssuche in Gang zu halten – somit darin, die von jeder Autorität erzwungene Wahrheit in Frage zu stellen, ganz gleich, welchen Rang sie hat.
Doch zuerst, um die Wahrheit in Frage zu stellen, muss der Einzelne sich mit der Ungewissheit arrangieren. Er muss in der Lage sein, alle Vorwände fallen zu lassen, mit seiner Seele nackt vor einem bedeutungslosen Universum zu stehen und es zu wagen, seine eigene Programmierung in Frage zu stellen, um offen genug zu werden, die Wahrheitssuche neu zu programmieren.
Sobald die Wahrheitssuche erst re-programmiert wurde, ist das Individuum befreit. Es ist frei, stets zu hinterfragen, immer offen zu sein, immer flexibel zu sein und niemals wieder in die Falle der Bestimmtheit und des blinden Glaubens zu tappen. Denn Bestimmtheit und blinder Glaube sind der Fluch jeder Wahrheitssuche. Und die Wahrheitssuche muss um der Wahrheit selbst willen weitergehen.
Letztendlich ist die selbstauferlegte Alchemie die Kunst, das ungesunde, starre und sichere Selbst zu transformieren – in ein gesundes, flexibles, unsicheres Selbst, das die Fähigkeit hat, der Selbst-Aufrechterhaltung zu widerstehen und die notwendigen Mittel und Fähigkeiten hat, die Selbst-Überwindung um der Selbstverbesserung und einer gesunden und fortschrittlichen Evolution unserer Spezies willen anzunehmen.