gefunden auf upliftconnect, geschrieben von Fritjof Capra, übersetzt von Pippa
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Eine Erde, Eine Menschheit, Eine Zukunft ist ein Konzept, das von Poeten, Philosophen und spirituellen Lehrern seit Jahrhunderten vermittelt wird. Eine seiner schönsten Ausdrucksformen kommt in der hochgelobten Rede zum Ausdruck, die dem Häuptling Seattle der Sunquamish- und Duwamish-Stämme zugeschrieben wird, welche nun den Staat Washington im Nordwesten der USA bilden:
Wir wissen dies:
alle Dinge sind miteinander verbunden,
wie das Blut,
das eine Familie vereint…
Was immer der Erde widerfährt,
widerfährt den Söhnen und Töchtern der Erde.
Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewoben;
er ist lediglich ein Faden darin.
Was auch immer er dem Netz antut,
das tut er sich selbst an. – Häuptling Seattle
Netz des Lebens
Das gleiche Konzept ist zentraler Bestandteil der Erdcharta, dem bemerkenswerten Manifest der 16 fundamentalen Prinzipien, um eine gerechte, zukunftsfähige und friedliche Welt zu erschaffen.
Die Einleitung der Erdcharta beginnt mit den folgenden Worten:
Wir stehen an einem entscheidenden Moment in der Erdgeschichte, einer Zeit, in der die Menschheit ihre Zukunft wählen muss… Wir müssen erkennen, dass wir eine menschliche Familie und eine Erdengemeinschaft mit einem gemeinsamen Schicksal inmitten einer prachtvollen Vielfalt von Kulturen und Lebensformen sind.
Die altehrwürdigen Auffassungen des Netzes des Lebens und der Erdengemeinschaft, oder der Gemeinschaft des Lebens, sind in vollem Umfang mit einer neuen Lebensauffassung vereinbar, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in der Wissenschaft abgezeichnet hat.
Eine neue Anschauung
Die ganzheitliche Betrachtung des Lebens ist ein neues Verständnis für das Leben auf der Erde, das sich in der vordersten Reihe der gegenwärtigen Wissenschaft abzeichnet. Das Universum wird nicht länger als eine Maschine betrachtet, die aus einfachen Bausteinen zusammengesetzt ist. Es ist eine Lebensauffassung, die auf systemischem Denken und einigen der neuen Konzepte und mathematischen Methoden der Komplexitätstheorie basiert.
Es ermöglicht uns zum ersten Mal, die biologischen, kognitiven und sozialen Dimensionen des Lebens mit einzubeziehen. Wir haben entdeckt, dass die materielle Welt ein Netzwerk aus untrennbaren, komplexen Beziehungsmustern ist; dass der Planet als Ganzes ein lebendes, sich selbst regulierendes System ist.
Die Betrachtung des menschlichen Körpers als eine Maschine und des Geistes als ein getrenntes Gebilde wurde durch eine Betrachtung ersetzt, die nicht nur das Gehirn, sondern auch das Immunsystem, das Körpergewebe und sogar jede Zelle als ein lebendes, geistiges System anerkennt.
Die ganzheitliche Betrachtung
Evolution wird nicht länger als Konkurrenzkampf der Existenz angesehen, sondern vielmehr als ein zusammenwirkender Tanz, in dem Kreativität und das regelmässige Entstehen von Neuem die treibenden Kräfte sind. Und mit dem neuen Schwerpunkt auf Komplexität, Vernetzungen und Organisationsmustern entsteht allmählich eine neue Wissenschaft der Qualitäten.
Ich nenne diese neue Wissenschaft „die ganzheitliche Betrachtung des Lebens“, weil sie eine neue Art des Denkens beinhaltet – ein Denken in Beziehungen, Mustern und Zusammenhängen.
In der Forschung ist diese Denkweise als „Denken in Systemen“ oder „systemisches Denken“ bekannt. Denken in Beziehungen ist für die Ökologie wesentlich, weil Ökologie – abgeleitet vom griechischen oikos für „Haushalt“ – die Wissenschaft der Beziehungen zwischen verschiedenen Mitgliedern des Erdenhaushaltes ist.
Lebende Netzwerke
Eine der wichtigsten Erkenntnisse des systemischen Verständnisses des Lebens ist die, dass Netzwerke die Grundmuster der Organisation aller lebendigen Systeme sind. Ökosysteme werden in Begriffen wie Nahrungsnetze verstanden (z.B. Netzwerke von Organismen); Organismen sind Netzwerke aus Zellen, Organen und Organsystemen – und Zellen sind Netzwerke von Molekülen.
Das Netzwerk ist ein Muster, das alles Leben gemeinsam hat. Wo immer wir Leben sehen, sehen wir Netzwerke. Tatsächlich finden wir im Herzstück des Paradigmenwechsels von der mechanischen zur systemischen Betrachtung des Lebens eine grundlegende Änderung der Metapher: bisher wurde die Welt als eine Maschine betrachtet, jetzt wird sie als ein Netzwerk erkannt.
Eine nähere Untersuchung dieser lebenden Netzwerke hat gezeigt, dass ihre Schlüsselmerkmale die der Selbsterneuerung sind. In einer Zelle werden beispielsweise all die biologischen Strukturen – die Proteine, die Enzyme, die DNA, die Zellmembranen und so weiter – kontinuierlich vom zellulären Netzwerk produziert, repariert und regeneriert. Auf die gleiche Weise werden die Körperzellen auf der Ebene eines mehrzelligen Organismus vom Stoffwechsel-Netzwerk des Organismus fortlaufend regeneriert und wiederaufbereitet.
Kommunikationsprozesse
Lebendige Netzwerke erzeugen oder rekonstruieren sich unablässig selbst, indem sie ihre Bestandteile umgestalten oder ersetzen. Auf diese Weise durchleben sie beständige bautechnische Veränderungen, während sie ihre netzartigen Organisationsmuster aufrechterhalten. Diese Koexistenz von Stabilität und Veränderung ist tatsächlich eines der wesentlichen Merkmale des Lebens.
Jede Kommunikation erschafft Überlegungen und Bedeutungen, die weiteren Austausch hervorruft, und dadurch erzeugt sich das gesamte Netzwerk selbst.
Leben im sozialen Feld kann ebenfalls im Sinne von Netzwerken verstanden werden, aber hier beschäftigen wir uns nicht mit chemischen Prozessen; wir befassen uns mit Prozessen der Kommunikation. Soziale Netzwerke sind Netzwerke der Kommunikation, wie du weisst. Wie biologische Netzwerke sind sie selbst-erzeugend, was sie jedoch erzeugen, ist grösstenteils nicht materiell. Jeder Informationsaustausch erzeugt Überlegungen und Bedeutungen, welches weitere Austausch hervorruft, und dadurch erzeugt sich das gesamte Netzwerk selbst.
Geist und Bewusstsein
Eines der wichtigsten und radikalsten philosophischen Schlussfolgerungen der ganzheitlichen Betrachtung des Lebens ist ein neues Konzept der Natur des Geistes und des Bewusstseins, welches letztendlich die cartesianische Trennung von Geist und Materie überwindet, die Philosophen und Wissenschaftler seit Jahrhunderten verfolgt.
Im 17. Jahrhundert stützte René Descartes seine Betrachtung auf die fundamentale Trennung zwischen zwei unabhängigen und separaten Bereichen – dem des Geistes, den er das „denkende Ding“ (res cogitans) nannte und dem der Materie, das „erweiterte Ding“ (res extensa).
Wissenschaftler und Philosophen, die Descartes nachfolgten, setzten die Denkweise fort, den Geist als irgendeine, nicht greifbare Einheit zu sehen und sie waren nicht in der Lage, sich vorzustellen, wie dieses „denkende Ding“ mit dem Körper verwandt ist. Der entscheidende Fortschritt der ganzheitlichen Betrachtung des Lebens besteht darin, die rein geistige cartesianische Anschauung als ein „Ding“ aufzugeben und zu begreifen, dass Geist und Bewusstsein nicht Dinge, sondern Prozesse sind.
Der Prozess des Wissens
Dieses neuartige Konzept des Geistes wurde in den 1960ern sowohl vom Biologen Humberto Maturana als auch – unabhängig voneinander – vom Anthropologen Gregory Bateson entwickelt, der den Begriff „Denkvorgang“ verwendete. Deren zentrale Erkenntnis ist die Identifizierung der Wahrnehmung – dem Prozess des Wissens – mit dem Prozess des Lebens.
Die Wahrnehmung ist gemäss Maturana die Aktivität, die an der Selbsterzeugung und Selbsterhaltung lebender Netzwerke beteiligt ist. Mit anderen Worten, die Wahrnehmung ist der eigentliche Prozess des Lebens. Die selbstorganisierende Aktivität lebender Systeme ist auf allen Ebenen des Lebens geistige Aktivität. Das Zusammenspiel eines lebenden Organismus – ob Pflanze, Tier oder Mensch – mit seiner Umwelt sind geistige Wechselwirkungen. Dadurch sind Leben und Wahrnehmung untrennbar miteinander verbunden.
Der Geist – oder genauer gesagt, die geistige Tätigkeit – ist auf allen Ebenen des Lebens in der Materie innewohnend. Zum allerersten Mal haben wir eine wissenschaftliche Theorie, die Geist, Materie und Leben verbindet.
Systemische Probleme – systemische Lösungen
Ich möchte betonen, dass meine Darstellung der ganzheitlichen Betrachtung des Lebens nicht nur Theorie ist, sondern dass sie sehr konkrete Einsatzmöglichkeiten bietet. Wir können die ganzheitliche Betrachtung des Lebens verwenden, um mit den Problemen unserer vielseitigen globalen Krise fertig zu werden.
Heute wird es immer offenkundiger, dass keines dieser Probleme – Energie, Umwelt, Klimawandel,
wirtschaftliche Ungleichheit, Gewalt und Krieg – voneinander getrennt verstanden werden kann.
Sie sind systembedingte Probleme, was bedeutet, dass sie alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Wie Papst Franziskus in seinem bemerkenswerten päpstlichen Erlass Laudatio si’ sagt:
Unser gemeinsames Haus verwahrlost erheblich… [Dies ist] sowohl an massiven Naturkatastrophen als auch an sozialen und sogar finanziellen Krisen offensichtlich, da die Probleme der Welt nicht getrennt voneinander analysiert oder erklärt werden können… Es kann nicht genug betont werden, wie alles miteinander verbunden ist.
Diese systemischen Probleme erfordern entsprechende systemische Lösungen – Lösungen, die nicht jedes Problem getrennt beheben, sondern es im Rahmen von anderen ähnlichen Problemen behandeln. Systemische Lösungen neigen daher dazu, mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen, wohingegen systemische Probleme gefährliche Konsequenzen in mehreren verschiedenen Bereichen haben.
Der Zusammenhang globaler Themen
Lasst mich die Landwirtschaft als Beispiel nehmen. Würden wir von unserer chemischen, gross-angelegten, industriellen Landwirtschaft zu einer biologischen, gemeinschaftsorientierten, nachhaltigen Landwirtschaft wechseln, würde dies erheblich dazu beitragen, unsere drei grössten Probleme zu lösen:
• Es würde in hohem Masse unsere Energieabhängigkeit reduzieren, weil wir nun ein Fünftel unserer fossilen Brennstoffe nutzen, um Nahrung anzubauen und zu verarbeiten.
• Die gesunde, biologisch angebaute Nahrung würde die Volksgesundheit gewaltig verbessern, weil viele chronische Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Diabetes usw. in direktem Zusammenhang mit unserer Ernährung stehen.
• Biologische Landwirtschaft würde gravierend dazu beitragen, den Klimawandel abzuschwächen, weil die biologische Erde eine kohlenstoffreiche Erde ist, was bedeutet, dass sie CO² aus der Atmosphäre abzieht und in organische Substanzen bindet.
Wohin jetzt
Dies ist nur ein Beispiel einer systemischen Lösung. Über die letzten paar Jahrzehnte haben die Forschungsinstitute und Bildungszentren der globalen Zivilgesellschaft weltweit Hunderte solcher systemischen Lösungen entwickelt und vorgeschlagen.
Das, was seit 50 Jahren im Mittelpunkt der Dokumentationen und Diskussionen dieser Lösung steht, erlebt mit der einzigartigen Verschmelzung von Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Spiritualität und Aktivismus, was zu dessen Kennzeichen wurde, eine Renaissance.
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