gefunden auf The Pulse, geschrieben von Daniel Pinchbeck, übersetzt von Antares
Der wissenschaftliche Materialismus geht davon aus, das physikalische Universum würde unabhängig vom Bewusstsein existieren und der Geist entstehe durch einen zufälligen Prozess der physikalischen und biologischen Evolution. Der Materialismus – oder Physikalismus – war die vorherrschende Ideologie in den letzten zwei Jahrhunderten, jeden Aspekt unserer Gesellschaft durchdringend.
Stattdessen regt der Idealismus die Sichtweise an, das Bewusstsein sei die grundlegende Realität oder das „ontologische Primitivum“ (,seinshafte Urbild’). Die (Geister-)Erscheinung des physischen Universums entspringt aus dieser Grundlage des Bewusstseins, wie ein riesiger turbulenter Traum.
In Why Materialism is Baloney (Weswegen der Materialismus Blödsinn ist) und The Idea of the World (Das Konzept der Welt) liefert der Philosoph Bernardo Kastrup ein grossartiges Argument für den Idealismus. „Die physikalischen Eigenschaften der Welt existieren nur insofern, wie sie wahrnehmend erfahren werden“, schreibt er. „Es gibt keine ontologische / seinshafte Veranlassung ausserhalb des Verstandes, auf dem sich diese Eigenschaften sonst befinden könnten, bevor sie im Verstand repräsentiert werden“. Als Individuen sind wir dissoziierte „Alter“ (,Abwandlungen’) dieses unbegrenzten, instinktiven Bewusstseins.
Physikalische Experimente haben, so merkt er an, „bestätigt, dass – anders als man es erwarten würde – die beobachteten Eigenschaften der Welt … wäre die Welt vom Geist getrennt oder von ihm verschieden – tatsächlich nicht vor der Beobachtung existieren könnte“. Er zitiert den Physiker Anton Zeilinger: „Es ergibt sich kein Sinn daraus, anzunehmen, dass das, was wir an einem System nicht messen [folglich nicht beobachten], eine [unabhängige] Realität hat.“
In Das Konzept der Welt überprüft Kastrup verschiedene Gegenargumente gegen den Idealismus, eines nach dem anderen … und widerlegt sie. Er wägt die Möglichkeiten ab, in welcher Weise Ideologien in der Gesellschaft verwurzeln und sich trotz ihrer Irrtümer als Normen etablieren und wie man sie ablösen kann: „Wir alle sind in unzählige ungeprüfte kulturelle Annahmen und konventionelle Denkmuster vertieft. Es ist die unvermeidbare Aufgabe des Idealisten, geduldig diese versteckten Annahmen und fehlerhaften Gedankenmuster zu identifizieren und blosszustellen, eines nach der anderen, während er oder sie beharrlich seine oder ihre Verdeutlichungen wiederholt. Nur in jener Weise kann die Logik, die hinter dem Argument des Idealisten steht, letztlich den kulturellen Schutzschild durchdringen.“ Ich stimme Kastrup dabei vollkommen zu. Ich meine, wir brauchen so etwas wie eine Armee von intellektuell rigorosen Idealisten, die das Thema von vielen Seiten angreifen.
Ich weiss, dies erscheint für viele noch sehr weit hergeholt, ich glaube jedoch, dass der Paradigmenwechsel vom Materialismus zum Idealismus sowohl entscheidend wie ebenso unvermeidlich ist. Die Frage – für mich – ist, wie und wann wir dorthin gelangen. Er ist unvermeidlich, da der Idealismus wahr ist, während der Materialismus falsch ist (oder, wie Kastrup es ausdrückt, “baloney” = „Quatsch“ / „Blödsinn“). Das ist wieder und wieder bewiesen worden, wissenschaftlich, und es wird immer sinnvoller, weil wir bessere Möglichkeiten entwickeln, darüber zu sprechen und nachzudenken. Viele andere Denker und Wissenschaftler sind zu dieser Sichtweise gelangt, darunter der Physiker Amit Goswami, Autor von Physik der Seele, und der Biologe Robert Lanza, der den Begriff „Biozentrismus“ prägte.
Bei der Erforschung der Natur der Realität entdeckten viele der grossen Physiker des 20. Jahrhunderts, das Universum ist in der Tat ein „grosser Gedanke“, der nicht aus Materie, sondern aus „geistigem Material“ fabriziert wurde. Ihre Entdeckungen stimmten mit den grundlegenden Lehren der östlichen Mystik überein. Allerdings muss ebenfalls gesagt werden, dass in der Vergangenheit oftmals falsche Ideologien und schlechte Ideen die Oberhand über wahre Ideen gewonnen haben. Der Siegeszug des Idealismus ist folglich noch nicht vollkommen gesichert.
Der Paradigmenwechsel vom Materialismus zum Idealismus hat in vielerlei Hinsicht enorme Auswirkungen. Er ist von immenser Bedeutung für die Zukunft unserer Welt. Ich erachte ihn für einen notwendigen Evolutionssprung. Es ist der Paradigmenwechsel, auf den wir gewartet haben. Er ist der Spielveränderer.
In den kommenden Aufsätzen werde ich Teile von Kastrups philosophischem Argument für den Idealismus paraphrasieren. Anschliessend betrachte ich die Auswirkungen des Idealismus auf eine Reihe verschiedener Bereiche, begonnen beim persönlichen Dilemma, was es bedeutet, ein sinnvolles Leben zu führen, bis hin zur kollektiven – sozialen und politischen – Frage, wie wir die Zivilisation neu erfinden können, um die Ungleichheit des Wohlstands, die technologische Kontrolle und die ökologische Katastrophe anzugehen.
Der Analytische Idealismus gibt uns die Antwort auf den kapitalistischen Realismus, den Neoliberalismus und den Transhumanismus. Er hat das Potenzial, unsere Beziehungen zueinander und zur Welt als Ganzes neu auszuformen. Während der Idealismus zu unserem Interpretationsrahmen erwächst, wird sich die Aufmerksamkeit der Menschheit einer neuen Richtung zuwenden und uns vor dem Abgrund der Quantifizierung, der Kontrolle und des Nihilismus retten, in dem die grosse Masse der Menschheit derzeit versunken ist. Der Idealismus erlaubt es uns auch, den indigenen Animismus und andere alte Kosmologien vollständig zu verstehen, sie in eine umfassende, integrale Weltsicht integrierend.
Die Verschiebung zum Idealismus stellt den Sinn und den Zweck der Welt wieder her. Aus dem Materialismus ergab sich für die Welt kein ihr innewohnender Sinn. Die Menschheit irrt hoffnungslos in einem Ödland umher: „Unsere Kultur glaubt, der semantische Wert der Welt sei einfach ein Artefakt des menschlichen Verstandes. Die Welt hätte keine Geschichte zu erzählen, keinen Vorschlag zu unterbreiten oder eine Einsicht zu vermitteln. Sie sagt schlicht nichts aus. Es existiert nichts Bedeutungsvolles, was wir in der Welt zusammentragen könnten, nur utilitaristische (zweckmässige) Vorhersagen, die über ihr Verhalten gemacht wurden“, schreibt Kastrup. Wenn die Welt allerdings in der Tat die Projektion eines universellen, instinktiven Bewusstseins ist, dann erfleht sie Interpretation und Analyse von uns: „Wenn die Welt mental ist, weist sie auf etwas hin, das über ihre oberflächlich erscheinenden Nennwert hinausgeht, und ist für Interpretationen empfänglich, genau wie gewöhnliche Träume ebenfalls. In diesem Fall ist das Projekt einer Hermeneutik von Jeglichem metaphysisch vertretbar.“
Wenn das Bewusstsein die grundlegende Realität ist, dann ist unsere fortwährende Tätigkeit – als bewusste Wesen – die Welt zu interpretieren, zu verstehen und ihr kreativen Ausdruck zu verleihen, nicht kontingent, zufällig oder bedeutungslos. Sie muss als ein essentieller Aspekt des Welt-Prozesses, der sich entfaltenden Wirklichkeit, der „Verweltlichung“ der Welt gesehen werden. William Blake erwies sich als phänomenologisch präzise, als er schrieb: „Die Phantasie ist kein Zustand: Sie ist die menschliche Existenz selbst.“
Ursprünglich veröffentlicht auf Daniel Pinchbecks Substack.