am 14. Februar 2021 von Milan Karmeli auf Collective Evolution veröffentlicht, übersetzt von Alkione
„Was du am meisten brauchst, wird dort zu finden sein, wo du am wenigsten suchen willst, aber du musst gezielt danach suchen. Wenn es dich verfolgt, dann bist du die Beute; wenn du dich ihm stellst, kannst du es überwinden.“
– Jordan Peterson
Es wird viel über Schatten geschrieben und was damit gemeint ist. Die Richtung ist klar. Schatten ist etwas, das wir verdrängen und vor anderen verstecken, und in den meisten Fällen auch vor uns selbst. Woher kommt er und was können wir tun, um ihn zu integrieren oder zu heilen? Beginnen wir mit der Frage:
„Warum haben wir einen Schatten? Ist es, weil wir die Dunkelheit in unserem Kern tragen, oder nimmt der Schatten im Laufe unseres Lebens Gestalt an als Überbleibsel von Angst, Wut, Scham und Schuld und deren Vermeidung?“
Ich würde sagen, ein bisschen von beidem. Auf der menschlichen kollektiven Ebene tragen wir ein Trauma, das mit dem Leiden und der Aggression unserer Vorfahren zusammenhängt. Aber zum grössten Teil entwickelt sich unser Schatten in diesem Leben in Form einer komplexen und ausgefeilten Persönlichkeit, die uns ein Gefühl von Kontrolle gibt.
Tief im Inneren fühlen wir uns verletzlich, versuchen aber, es zu verbergen
Unsere innere Welt ist komplex und für manche unerträglich. Wir sind ständig damit konfrontiert und fürchten uns davor, unsere widersprüchliche Komplexität zu offenbaren – uns selbst und anderen gegenüber. Anstatt in die Tiefe unserer Psyche einzutauchen und mehr Bewusstheit zu erlangen, schützen wir uns lieber.
Je bewusster wir sind, desto mehr Verantwortung tragen wir für unser Handeln. Einer der Gründe, warum wir unseren Schatten so akribisch verstecken, ist, dass wir die Konsequenzen unseres Handelns nicht tragen wollen. Und so sind unsere Verletzlichkeit und unser Schatten eng miteinander verbunden.
Es gibt viele effektive Möglichkeiten, sich nicht verletzlich zu fühlen und ein Gefühl der Unschuld zu bewahren. Das Befolgen einer strengen Moral, das Festhalten an Ideologien – seien sie sozial, politisch oder spirituell – oder das sich Verlassen auf religiöse Dogmen, erreichen alle genau diesen Schutz. Die Art von Schutz, in der wir uns in Gefühle von Rechtschaffenheit und Unschuld hüllen.
Das soll nicht heissen, dass wir nicht danach streben sollten, dass unsere Handlungen moralisch sind, oder dass wir es vermeiden sollten, zu glauben, sondern dass wir uns bewusst werden sollten, wenn sie im Dienste des Gefühls der Überlegenheit gegenüber anderen eingesetzt werden. Interessanterweise ist unser Wunsch, unschuldig zu bleiben, ein grosser Schatten an und für sich.
Während wir also damit beschäftigt sind, zu verdrängen und zu kontrollieren, nährt sich der Schatten und wächst mit jedem Versuch, Ablehnung, Demütigung oder Bestrafung abzuwehren, sowie mit Situationen, in denen wir uns schuldig und beschämt fühlen.
Hier sind einige Beispiele dafür, wie unser Schatten unsere Verwundbarkeit verbirgt.
Nehmen wir an, wir wollen für etwas, das wir getan haben, anerkannt werden. Anstatt nach Anerkennung zu fragen, verstecken wir sie durch falsche Demut und werden nachtragend, weil wir nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die wir glauben, zu verdienen.
Ein anderes Beispiel ist unser Bedürfnis, dazuzugehören und für andere wichtig zu sein. Aber auch hier gilt: Statt dieses Bedürfnis zu kommunizieren, was uns anfällig für Ablehnung macht, geben wir anderen das Gefühl, wichtig zu sein, in der Hoffnung, für unsere Taten gelobt zu werden.
Im Laufe der Zeit haben wir unzählige raffinierte Wege entwickelt, um unsere Schatten zu beschönigen und uns so zu fühlen, als hätten wir die Kontrolle.
Die Integration von Schatten beginnt mit einer Ehrlichkeit, die keine Gegenleistung verlangt
Wir können sehen, dass die meisten Schatten mit Überlebensversuchen irgendeiner Art zu tun haben. Das geschieht, wenn wir versuchen, unsere Umgebung zu kontrollieren, indem wir uns als Opfer verhalten, uns durch falsche Demut, moralische Überlegenheit und andere Formen der Manipulation Respekt verschaffen.
Wenn wir über die Integration von Schatten sprechen, ist es entscheidend, dass wir genau wissen, was die Facetten unseres Schattens sind.
Wir wollen z. B. unter Verzicht auf jedes Urteil sagen können: „Ich lächle andere an, um nicht angegriffen zu werden“ oder „Ich kontrolliere meinen Partner, indem ich ihm Schuldgefühle mache“. Jedes Urteil über das, was wir in uns entdecken, ist ein versteckter Versuch, uns selbst zum Opfer zu machen und Ausreden zu finden.
Das „Warum“ ist dabei zweitrangig, denn die Liste der Gründe ist endlos und die absolute Quelle ist schwer auszumachen, aber der Drang, unsere Verletzlichkeit einzuschränken, ist trotzdem da.
Dies ist vielleicht ein guter Moment, um zu sagen, dass es bei der Integration von Schatten nicht um Erlösung geht, sondern darum, die inneren Abläufe von Verwundbarkeit und Schutz zu verstehen, die eng mit unserem Gefühl des Überlebens verbunden sind – sowohl physisch als auch emotional.
Ausserdem wollen wir uns unseren Schatten stellen, nicht um uns in Zukunft besser oder leichter zu fühlen, sondern um in uns selbst integrierter zu werden und das Gefühl der Trennung zu verringern, das der Schatten erzeugt.
Wir wollen die Integrität zurückgewinnen, die mit der Verantwortung einhergeht, zu einer Geschichte und Kultur zu gehören, die viel Leid erfahren hat und grösser ist als unser individuelles Selbst.
Unseren Schatten zu integrieren bedeutet, der Dunkelheit zu erlauben, Teil von uns zu sein – ohne den Wunsch, sie zu überwinden.
Vergiss die Hoffnung auf ein schmerzfreies Leben
Wenn wir uns unserem Schatten stellen, wollen wir uns die Aggression, die Angst, den Egoismus oder die Gier, die in uns leben, vollständig zu eigen machen. Wir wollen vor allem uns selbst gegenüber klären, wie wir Machtspiele spielen und nach Kontrolle streben.
Dieses Anerkennen verringert nicht unbedingt die Verletzungen, die wir uns selbst oder anderen zufügen, oder befähigt uns, uns zu verändern. Es gibt kein sicheres Ergebnis bei der Integration von Schatten, und das ist eine harte Pille, die wir schlucken müssen.
Was wir „einfach“ tun, ist, etwas Verborgenes ans Licht zu bringen – ohne den Versuch, es mehr oder weniger bedeutsam oder dramatisch zu machen, sondern es zu sehen, wie es ist, und dadurch bewusster zu werden.
Je mehr Emotionalität wir in die Charakterisierung unseres Schattens einbringen, desto weniger Integration findet statt. Die Integration von Schatten sollte ein nicht-dramatischer Akt sein, umgeben von einem Hauch von Coolness, bei dem wir beobachten, wer wir geworden sind.
Während dieser Beobachtung werden wir den Schmerz der Lügen, des Verrats und der Verletzung gegenüber anderen spüren. Und dabei ist das Zurückhalten von Urteilen, ob positiv oder negativ, eine echte Herausforderung.
Wie ist es möglich, das, was wir als persönliche Erfahrung betrachten, „nicht zu kommentieren“? Wir müssen verstehen, dass jeder Kommentar auch den Versuch beinhaltet, die Erfahrung zu verändern, sei sie nun befreiend oder bestrafend für uns.
Die Heilung von Schatten ist ein magischer Prozess, bei dem wir der Teilnehmer sind, nicht der Regisseur
Die grosse Herausforderung bei der Integration von Schatten besteht darin, unsere Fähigkeit zu entwickeln, mit einer Erfahrung zu sein oder sie zu halten, ohne die Fähigkeit zu haben, sie zu verändern. Was geschehen ist, liegt in der Vergangenheit und kann nicht rückgängig gemacht werden; es kann nur gehalten werden und indem wir es geduldig halten, können weitere Facetten auftauchen und gesehen werden.
Wie wenn sich ein Kind verletzt, können wir es nur halten, um den Schmerz des Wartens auf Heilung zu teilen, aber die Magie der Heilung hat ihre eigene geheimnisvolle Zeitlinie.
Wenn wir unseren Schatten anerkennen, versetzt uns das in eine hilflose und demütige Lage. Er zeigt uns unsere Grenzen auf und das ist etwas, das wir nicht fühlen wollen. Die Maximierung unseres Potenzials für unser eigenes Gefühl der Grösse ist nur ein weiterer Schatten.
Die Begrenzung unseres Potenzials anzuerkennen – ohne unsere Stärke zu minimieren oder falsche Demut zu üben – erlaubt uns, unser Licht zu teilen.
Das Leben kommt mit vielen Grenzen und der Schatten versucht, sich in das Leben selbst einzumischen. Sich unserem Schatten zu stellen, ist ein spiritueller Akt, da wir ein wenig mehr von unserer menschlichen Totalität annehmen und zulassen.
Durch diese Erfahrung können wir mit einer Demut und Einfachheit in Berührung kommen, die oft etwas in unserem Kern berühren kann, das mystisch bedeutsam und erweiternd ist.
Integration kommt von einem Ort, der nicht-dramatisch ist, denn Drama ergreift immer Partei und lässt uns die Einfachheit vermissen, die in der Anerkennung der menschlichen Komplexität liegt. Die Integration von Schatten ist ein lebenslanger und sogar ein magischer Prozess.
Sie geschieht, wenn wir vollkommen wahrhaftig sind, alle Deals mit Gott oder dem Schicksal aufgeben und uns dem hingeben, was wir im Wesentlichen sind: verletzlich.
Wir wollen das Gefühl des Schmerzes, den unser Schatten uns offenbart, zulassen, ohne Erlösung zu suchen. In gewisser Weise stimmen wir jedes Mal, wenn wir Ja zu einem Schattenanteil in uns sagen, zu, wieder in die ständige Verletzlichkeit des Menschseins einzutreten.
Das ist es, wo Integration beginnt.
Ein wundervoller Artikel, danke schön!!!
Ja und nein. Sich dem Schatten zu stellen bedeutet nicht zwangsläufig, dass man ihn, einmal liebevoll integriert, immer wieder auf´s Neue spüren muss. Er ist da, der Schatten, angenommen, geliebt, und braucht deswegen Deine Aufmerksamkeit nicht (mehr). Ein Schatten meldet sich ohnehin immer nur dann, wenn Du ihn brauchst. Schatten entsteht durch Spaltung, sprich: Ablehnung, Leugnung, es nicht als Teil von einem Selbst anerkennen wollen. DANN entsteht Schatten, dann brauchst Du ihn auch, dann musst (darfst) ihn Dir ansehen und wieder „nach Hause“ holen.
Alles Gute Euch lieben Seelen.